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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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Annette auf langen Flugreisen die Zähne ausbiß.
    In diesem Moment ging bereits die Tür auf, und Paul kam herein.
    Um nicht unhöflich zu erscheinen, nötigte Annette die Freundin, mit ihnen den abendlichen Imbiß zu teilen -bloß eine Tasse Tee und ein Käsebrot -, schließlich habe man sich lange nicht gesehen. Olga blieb.
    Als nach dem Abendessen, das am Couchtisch einge-nommen wurde, erneut das Telefon klingelte, verließ Annette mit einem Seufzer die Dreierrunde. Sie rechnete mit abermaligen Rückfragen wegen ihrer bevorstehenden Geschäftsreise nach Venezuela.
    Wie stets meldete sie sich mit »Wilhelms«, wurde aber nicht, wie erwartet, vom Redefluß ihrer hektischen Sekretärin überfallen, sondern vernahm die vertraute Stimme ihres Mannes.
    »Hallo Paul, was soll der Quatsch«, rief Annette.
    Paul reagierte nicht oder schien sich spaßeshalber taub zu stellen.
    Annette verstand diesen Anruf nicht und wollte leicht verwirrt wieder auflegen. Das Ganze war ein Mißverständnis, irgend jemand erlaubte sich einen Scherz mit ihr.
    Aber dann hörte sie ihren Mann ziemlich deutlich sagen: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Olga, sie kann uns bestimmt nicht hören. Und wenn sie einmal am Apparat ist, dann dauert das Gequatsche mindestens fünf Minuten. Außerdem poltert sie genauso lautstark herunter, wie sie vorhin hinaufgestampft ist.«
    Annette verharrte wie versteinert. Was sollte das? Meinte er ihre Clogs?
    Doch nun redete Olga, zwar nicht ganz so deutlich wie Annettes Mann, aber dank ihrer Lehrerinnenstimme durchaus verständlich: »Wann fliegt sie denn nun endlich?«
    »Am Gründonnerstag«, sagte Paul. »Du solltest schon mal den Reiseführer für uns wälzen. Stichwort: Granada!«
    Annette rauschten die Ohren, und ihr wurde schwarz vor den Augen. Sie warf den Hörer hin und sank auf ihren Schreibtischstuhl. Als das Herzklopfen etwas nachließ, wurde ihr klar, daß sich verschwommene Ahnungen plötzlich bewahrheiteten. Schon ein paarmal hatte sie den vagen Verdacht gehabt, daß Paul nicht bloß Mandantengespräche führte, wenn er eine Verspätung ankündigte. Erst vor kurzem hatte sie sich über den verstellten Beifahrersitz und über Katzenhaare auf seiner Hose gewundert. Dann über ein neues Rasierwasser. Manchmal kam er nach einem langen Bürotag auch nach Hause und roch wie frisch geduscht.
    Aber wie um alles in der Welt hatte sie dieses Gespräch -das offenbar ein Stockwerk unter ihr stattfand - am Telefon mithören können? Was trieb man für ein Spiel mit ihr? Und wie sollte sie sich nun verhalten? Sich im Schlafzimmer verbarrikadieren, eine Szene machen, sowohl Olga als auch Paul aus dem Haus jagen?
    Im Badezimmer ließ Annette kaltes Wasser über Gesicht und Unterarme laufen, schneuzte sich, bediente die Spülung und beschloß, sich vorerst nichts anmerken zu lassen. Schwerwiegende Entschlüsse, die womöglich nicht mehr rückgängig zu machen waren, sollte man nicht in der ersten großen Wut treffen. Also kam sie mit genau kalkuliertem Gepolter die Treppe hinunter.
    Olga stand zum zweiten Mal auf. »Jetzt wird es aber höchste Zeit für mich«, sagte sie. »Ich habe bloß gewartet, um dir noch adieu zu sagen. Habt ihr einen Busfahrplan zur Hand? Mein Gott, hast du schlechte Nachrichten erhalten, du siehst ja völlig entnervt aus?«
    Ihre Sekretärin belästige sie sogar abends mit Fragen, die gut bis übermorgen Zeit hätten, sagte Annette, ob sie beispielsweise ein mobiles Flipchart mit auf die Reise nehmen werde! Aber das interessiere sicherlich keinen.
    »Doch«, behauptete Paul, »alles, was dich belastet, geht mich schließlich auch etwas an. Selbstverständlich fahre ich Olga rasch heim, das wäre ja noch schöner ...«
    Doch Olga drückte energisch ihre Zigarette aus und sagte: »Nett von dir Paul, aber ich komme schon allein nach Hause.« Sie reichte beiden die Hand und verabschiedete sich.
    Als Paul und Annette allein waren, sprachen sie zwar noch über ein paar belanglose Dinge wie den notwendigen Kauf einer neuen Waschmaschine und eine verspätet eingetroffene Postkarte aus Italien, aber kein Wort über Olgas Besuch. Dann wollte Paul einen Dokumentarfilm über Einhandsegler anschauen und verzog sich in sein Zimmer, wo ein zweiter Fernseher stand; Annette gab vor, noch ein wenig zu lesen.
    Ob sie nicht ganz bei Trost war? Chronisch überarbeitet und durch die häufigen Reisen völlig mit den Nerven herunter? Hatte sie Halluzinationen? Ordnete sie wildfremde Stimmen ihrem Mann
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