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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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wecken. Inzwischen sah sie zwar aus wie eine tüchtige Karrierefrau, hatte aber immer noch die kindlich zarte Haut und das weiche Haar einer Zehnjährigen.
    Aber innerlich mußte sie aus Stahl sein, wie Paul mit einem gewissen Neid annahm. In einem Punkt waren sie sich jedoch ähnlich: Annette fiel es ebenfalls schwer, über
    Gefühle zu sprechen, und auch sie neigte dazu, Probleme im privaten Bereich unter den Teppich zu kehren.
    Jahrelang waren Paul und Annette mit Olga und Markus Baumann befreundet gewesen. Doch seit deren Trennung vor ungefähr einem Jahr war der Kontakt eingeschlafen. Zufällig traf Annette ihre ehemalige Freundin in einem neu eröffneten italienischen Schuhgeschäft in einer Passage auf den Planken wieder. Die unerwartete Begegnung machte sie ein wenig verlegen, aber Olga schien völlig beschäftigt mit der Anprobe knallroter Lackschuhe und hob kaum den Blick, als Annette sich näherte.
    Wie sich die Menschen doch veränderten, dachte Annette. In der Schulzeit latschte Olga in Birkenstock-Sandalen herum, hatte ein Kassengestell und war die Klassenbeste; als Studentin wechselte sie zu Riemchensandalen und Kontaktlinsen über. Und jetzt? Da kaufte sich diese etablierte Studienrätin doch glatt Flamenco-Schuhe, für die sie viel zu dicke Beine hatte, und trug gleichzeitig eine sündhaft teure Intellektuellenbrille aus grünem Schildpatt. Entweder ging sie zur Zeit auf Männerjagd, oder ein Opfer zappelte bereits im Netz.
    Neugierig geworden pflanzte sich Annette direkt vor Olga auf. »»Need you help?« fragte sie, um die Situation durch die Blödelsprache ihrer Schulzeit aufzulockern.
    Olga blickte hoch und überspielte, ihrer Freundin hierin nicht unähnlich, die Überraschung und leichte Befangenheit durch muntere Begrüßung. »Nein so was, die Annette! Was meinst du, bin ich zu alt für Signalfarben?«
    Mit Vierzig könne man tragen, was einem stehe, meinte
    Annette, an Olgas Stelle würde sie die roten Schuhe gleich anbehalten. Mit diesen Worten nahm sie der Freundin einen Schuh aus der Hand, strich liebkosend über das glänzende Leder und bedauerte, daß sie selbst von Berufs wegen zwar teure, aber konservativ-korrekte Kleidung tragen müsse.
    Ermutigt schritt Olga zur Tat, und nach erfolgtem Einkauf konnte Annette nicht umhin, die Freundin auf einen Drink einzuladen, denn es war nicht allzu weit bis zu ihrem Haus in Mannheim-Almenhof. Gern hätte sie gefragt, ob Olga inzwischen geschieden sei, traute sich aber nicht recht. Statt dessen sprachen sie auch zu Hause weiterhin über Schuhe: Wie angenehm es sei, diesen noblen Laden entdeckt zu haben, und daß es immer schwerer werde, gut sitzendes Schuhwerk zu finden.
    »Es hat sicherlich damit zu tun, daß wir älter werden«, sagte Annette. »Früher paßte mir jeder Schuh, ich konnte kaufen, was mir gefiel. Heute muß ich auf manche Modelle verzichten. Dabei ist mein Gewicht noch das gleiche wie vor zwanzig Jahren.«
    Im Gegensatz zu dir, fügte sie im stillen hinzu, wurde aber durch das Klingeln des Telefons unterbrochen und ging in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock.
    Annettes Mann war am Apparat. »Bevor du mir Bescheid gibst, daß es heute wieder spät wird«, sagte sie spöttisch, »kann ich dir gleich die erfreuliche Mitteilung machen, daß es mich diesmal überhaupt nicht stört. Ich habe Besuch ...«
    »Einen Liebhaber?« fragte Paul.
    Annette grinste geschmeichelt, was ihr Mann allerdings nicht sehen konnte. »Möglich wär’s«, meinte sie, »aber du hast noch mal Glück gehabt. Ich habe Olga getroffen und sie kurz entschlossen geschnappt. Wir haben uns lange nicht mehr ausgetauscht.«
    Ihr Mann schwieg einige Sekunden, um dann zu erklären, daß er eigentlich gar keine Verspätung anmelden wollte. Er sei bereits auf dem Heimweg, sitze im Wagen und telefoniere im Moment vor der roten Ampel an der Speyererstraße. »Bis gleich«, sagte er und legte auf.
    »Es war Paul«, sagte Annette, als sie wieder unten im Wohnzimmer ankam. »Seine schöne Mama hat ihn gut erzogen, und davon ist immerhin ein Restchen hängengeblieben. Ich muß ihm zwar ständig hinterherräumen, aber er ruft brav an, wenn er länger als üblich in der Kanzlei zu tun hat. Und heute hat er sogar großartig verkündet, daß er endlich mal pünktlich kommen wird.«
    Man könnte sich ja für ein andermal verabreden, sagte Olga, sie müsse noch Aufsätze korrigieren. Beim Aufstehen warf sie einen prüfenden Blick auf den spanischen Titel eines Romans, an dem sich
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