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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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nach. Als das Handy klingelte, meldete er sich mißmutig.
    Es war seine Mutter. »Jean Paul, mein Großer, wie geht’s dir? Bist du im Moment allein?« fragte sie. »Annette braucht nicht unbedingt mitzuhören, es handelt sich um eine vertrauliche Familienangelegenheit.«
    Paul wurde es mulmig. Am liebsten hätte er behauptet, seine Frau säße neben ihm.
    Sein Bruder habe kürzlich mit einem Steuerberater gesprochen, sagte die Mutter. Für viele Eltern sei es ratsam, den Kindern eine gewisse Summe des späteren Erbes bereits bei Lebzeiten zu überlassen, da dieses Geld im Gegensatz zu einer Erbschaft steuerfrei bleibe. Es sei also klug, wenn sie sich schon früh vom Erlös ihres Dresdner Hauses trenne, denn nur wenn sie innerhalb der nächsten zehn Jahre sterben sollte, unterliege die Schenkung der Steuerpflicht.
    »Verstehe«, sagte Paul, der über Erbrecht besser informiert war als sie. Endlich einmal eine erfreuliche Nachricht, denn er konnte jeden Cent gebrauchen. »Das ist vernünftig. An wieviel dachtest du denn?« fragte er vorsichtig. Über das relativ neue Vermögen seiner Mutter war er nur vage informiert, und er wollte keinesfalls habgierig wirken.
    Paul und Annette seien ja Gott sei Dank erfolgreiche Doppelverdiener, behauptete die Mutter, und bräuchten keine finanzielle Unterstützung. Aber Achim wolle eine Toyota-Filiale in Mainz übernehmen und benötige Kapital. Deswegen habe sie ihm seinen Anteil bereits überwiesen, Paul bekomme später selbstverständlich den gleichen Betrag. Sie könne nur momentan nichts mehr flüssig machen, sonst würde der Papa ungemütlich.
    Wieviel sein Bruder erhalten habe, wollte Paul wissen und erfuhr, daß es um die steuerfreie Höchstsumme ging.
    »Du bist so still, Jean Paul«, meinte die Mutter, »dabei weiß ich genau, daß du für deinen Bruder nur das Beste willst.«
    Paul rief in den leeren Raum hinein: »Lieb von dir, Annette, aber ich möchte jetzt keinen Tee mehr.«
    Seine Mutter begriff und sagte: »Grüß das Annettchen ganz lieb von mir, auch von Papa. Und ich melde mich bald wieder. Gute Nacht.«
    Ein frommer Wunsch, denn Paul ging nicht ins Bett, sondern blieb ratlos in seinem Zimmer sitzen und dachte an den Bruder, den er als Kind überaus geliebt hatte.
    Achim hatte das Studium der Betriebswirtschaft abgebrochen und war Autohändler geworden. Paul glaubte, daß letzten Endes seine Eltern für die Mißerfolge des Bruders verantwortlich waren. Sie hatten Achim alles erlaubt, was Paul nie gestattet wurde, hatten seine Schulden bezahlt und sogar den Hausarzt genötigt, ihm bei geschwänzten Schulstunden und versäumten Examensterminen ein Attest auszustellen. Selbst die Natur hatte Achim bevorzugt und ihm volles Haar und einen hohen, schlanken Wuchs gegeben. Paul nahm die Brille ab, um sich die Augen zu trocknen. Manchmal hatte er das Gefühl, daß er ebensowenig mit dem Leben klarkam wie sein hübscher Bruder.
    Als Paul schließlich einschlief, träumte er von seiner Mutter. Als Knabe hatte er ihre cremefarbene Seidenbluse mit einem Muster aus grünen Muscheln und hellroten Korallenzweigen sehr bewundert. Unter einem Weidenbaum, dessen liebliches Grün sich in der Bluse wiederholte, führte sie mit langsamen Bewegungen ihre Tai-Chi-Übungen aus, wobei man sie niemals stören durfte. Nur Paul konnte den maskierten Bogenschützen sehen, der tief im Gebüsch auf Beute lauerte. War es Zorro, der Rächer, oder gar Amor, dessen Pfeil ja nie das Herz verfehlte? Als die Mutter getroffen wurde, wachte er auf, und sein Warnschrei kam zu spät.
    Im Schuhladen
    Pauls Frau Annette war in einer glücklicheren Situation als er, obwohl sie ihre Eltern relativ früh verloren hatte. Sie hatte eine behütete Kindheit gehabt, in der es viele Freunde, aber keine konkurrierenden Geschwister gab. Als sie das Mannheimer Elternhaus sowie einige Aktien erbte, war sie Mitte Zwanzig. Die Schule und Ausbildung zur Auslandskorrespondentin nahm sie nicht allzu ernst, sondern entwickelte erst zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit Ehrgeiz, dann allerdings vehement. Inzwischen bedauerte sie es manchmal, nicht studiert zu haben. Wahrscheinlich waren ihre Bemühungen, mit ihrem Einkommen sowohl die ehemaligen Klassenkameraden als auch ihren Mann zu übertreffen, gerade deshalb sehr erfolgreich.
    Dank ihrer zierlichen Figur und einem feinen Mäusegesicht hatte Annette als Mädchen sehr niedlich ausgesehen; nie war es ihr schwergefallen, die Beschützerinstinkte junger und alter Männer zu
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