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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder
Autoren: Ingrid Noll
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ihr. »Paul hat mich gebeten, mal nach dir zu schauen«, sagte er, fast ein wenig verlegen. »Er scheint sich Sorgen um dich zu machen .«
    »Hast du gerade Mittagspause?« fragte Annette verwundert. Markus im weißen Kittel kam ihr fremd vor, bei früheren Begegnungen hatte er meistens in Cordhosen und irischen Pullovern mit Zopfmuster gesteckt.
    Genau deswegen habe er es eilig, meinte er und folgte ihr die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Was sie für Beschwerden habe? Routinemäßig öffnete er die Arzttasche und zog das Stethoskop heraus.
    Annette zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich sei sie einfach nur erschöpft, sagte sie, es hätte in letzter Zeit viel Stress im Büro gegeben. Aber es wäre nett, wenn er ihr die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen könne. Irgendwie sei es schade, daß man sich gar nicht mehr sehe. »Seid ihr inzwischen geschieden?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf und schrieb ein kurzes Attest, wobei er Annettes Frühstückstablett als Unterlage benutzte. »Demnächst soll die Scheidung durchgeboxt werden. Vielleicht kann mir Paul dabei juristisch zur Seite stehen, Olga hat ziemlich überzogene Forderungen gestellt. - An deiner Stelle würde ich ein paar Tage faul zu Hause bleiben und ausschlafen! Du hast es anscheinend dringend nötig.«
    Wann denn der Gerichtstermin sei? fragte Annette neugierig.
    Markus antwortete: »Sobald wie möglich. Sicher hat es sich bereits herumgesprochen, daß ich nicht mehr allein lebe. Bist du eigentlich privat versichert?«
    »Bin ich. Und wie geht’s Olga?« fragte Annette listig.
    Offenkundig gar nicht so schlecht, meinte er. Und setzte in seiner bedächtigen Art hinzu: »Ich habe eigentlich keine
    Gewissensbisse mehr, denn fast glaube ich, sie hat sich auch .«
    Was habe Olga auch? fragte Annette.
    Markus deutete vielsagend aufs eigene Herz, lachte und strich seiner Patientin freundschaftlich übers verwuschelte Haar.
    Ob Annette immer noch bei Quark für die Welt arbeite, wollte er wissen und ordnete seine Formulare.
    Ein wenig genervt korrigierte sie: »Bei der Badischen Quark und Joghurt GmbH auf der Friesenheimer Insel. Wir expandieren über Erwarten.«
    Er wisse, wie es sei, wenn einem die Arbeit über den Kopf wachse, meinte er verständnisvoll und zog eine Pillenpackung aus der Tasche - im Notfall könne sie dieses Präparat einmal ausprobieren.
    »Zum An- oder zum Abregen?« fragte Annette argwöhnisch.
    Markus grinste, kramte weiter und förderte eine zweite, bereits angebrochene Lochpackung heraus. - Die kleinen weißen Tabletten würden bei Erschöpfung aktivieren, die blauen Dragees brächten den Hyperaktiven am Abend wieder zur Ruhe; beide seien völlig harmlos. Heutzutage könne die Pharmazie Tote wieder lebendig machen. Alles Gute, und sie solle sich melden, wenn sie Hilfe brauche.
    Annette starrte an die Decke. Gelegentlich konnte Markus ein wenig bärbeißig sein, aber eigentlich fand sie ihn sympathisch und hatte ihn immer als verläßlichen Freund geschätzt. War er nicht in seiner knappen Mittagspause an ihr Krankenbett geeilt?
    Markus war neun Jahre älter als Olga. Er hatte alles im Leben so brav gemacht, wie man das vom Sohn eines Postdirektors erwartete. Einzig die anstehende Scheidung paßte nicht ganz in die Bilderbuchbiographie.
    Nach eigenen Worten war Markus mit einer Neuen liiert, Olga lag mit ihrem Paul im Bett, nur sie selbst ging leer aus. Verpaßte Möglichkeiten, dachte Annette wehmütig. Da stand beziehungsweise lag sie nun mit leeren Händen und bitteren Gedanken.
    Natürlich konnte es auch sein, daß Paul späte Rache übte, denn er war nur ihr zuliebe von Mainz weggezogen. Wer will schon nach Mannheim? Zitierte er gern die FAZ. Annette mußte zwar zugeben, daß die Entwicklung ihrer Heimat nach dem Krieg ziemlich phantasielos erfolgt war und daß es dem Rhein-Neckar-Dreieck ein wenig an Flair fehlte. Andererseits war Mannheim eine überschaubare, liebenswerte und ehrliche Stadt, die durch Toleranz und Offenheit Punkte machte. Zwischen Wasserturm und Schloß, zwischen Pfälzer- und Odenwald ließ es sich gut leben.
    Auch Olga war durch und durch Mannheimerin und kannte sogar Joy Fleming persönlich. Als Lehrerin sprach sie zwar ein betont gepflegtes Hochdeutsch, verfiel aber gelegentlich in die heimatliche Mundart. Als Paul nach seiner Heirat in die Metropole der Kurpfalz zog, hatte er anfangs das dominante mannemerische alla mit moslemischen Riten in Verbindung gebracht, bis ihn Annette über die unterschiedlichen
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