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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver
Autoren: Neal Stephenson
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eine Linie von den toten Verbrechern am Stadttor zum Pulverturm auf dem Common, zum Hexengalgen und schließlich zu den Verteidigungsanlagen am Hafen zieht, entsteht das Bild einer kartesischen Zahlengeraden – der Ordinate bei Leibniz: Er versteht, wovor die Leute in Boston Angst haben und wie die Kirchenmänner und Generäle den Ort unter der Knute halten. Allerdings bleibt abzuwarten, was in den Raum oberhalb und unterhalb davon eingezeichnet werden kann. Die Hügel von Boston sind von endlosen flachen Sümpfen umgeben, die sich, gemächlich wie die Dämmerung, im Hafen oder im Fluss verlieren und unbebaute Flächen frei lassen, auf denen Männer mit Schnüren und Linealen die sonderbarsten Kurven konstruieren können, die ihnen in den Sinn kommen mögen.
    Enoch weiß, wo der Ursprung dieses Koordinatensystems zu finden ist, denn er hat mit Handelskapitänen gesprochen, die Boston kennen. Er geht hinunter an die Stelle, wo der lange Kai sich am Ufer festhält. Zwischen den feinen Steinhäusern der Seekaufleute gibt es eine ziegelrote Tür, über der eine Weinrebe baumelt. Enoch tritt durch diese Tür und befindet sich in einer ordentlichen Schänke. Männer mit Degen und teurer Kleidung drehen sich zu ihm um. Sklavenhändler, Männer, die mit Rum, Melasse, Tee und Tabak Handel treiben, und die Kapitäne der Schiffe, die diese Waren transportieren. Es könnte an jedem beliebigen Ort auf der Welt sein, denn dieselbe Schänke gibt es in London, Cadiz, Smyrna und Manila, und es verkehren dieselben Männer darin. Keinen von ihnen kümmert es, sofern sie überhaupt davon wissen, dass nur fünf Gehminuten entfernt Hexen aufgehängt werden. Hier drinnen fühlt sich Enoch viel wohler als dort draußen; aber er ist nicht hergekommen, um sich wohl zu fühlen. Der Schiffskapitän, den er sucht – van Hoek – ist nicht da. Bevor der Schankwirt ihn in Versuchung führen kann, geht er rückwärts wieder hinaus.
    Wieder in Amerika und unter Puritanern, bewegt er sich durch schmalere Gassen nordwärts und führt sein Pferd auf einer wackligen Holzbrücke über einen kleinen Mühlbach. Flottillen von Holzspänen vom Hobel irgendeines Zimmermanns segeln wie Schiffe, die in den Krieg ziehen, den Wasserlauf abwärts. Darunter schiebt die schwache Strömung Exkremente und Teile von geschlachteten Tieren zum Hafen hinunter. Es riecht entsprechend. Kein Zweifel, nicht weit in Windrichtung gibt es eine Seifensiederei, in der nicht zum Verzehr geeignetes Tierfett zu Kerzen und Seife verarbeitet wird.
    »Seid Ihr aus Europa gekommen?«
    Er hat gespürt , dass jemand ihm folgte, jedoch, wenn er sich umschaute, nie etwas gesehen . Jetzt weiß er warum: Sein Beschatter ist ein Knabe, der sich wie ein Tropfen Quecksilber bewegt, den man niemals zu fassen bekommt. Zehn Jahre alt, schätzt Enoch. Dann fällt dem Knaben ein zu lächeln, und seine Lippen teilen sich. Sein Zahnfleisch trägt die Stümpfe bleibender Zähne, die sich in rosafarbene Lücken schieben, und Milchzähne, die wie Tavernenschilder an Hautscharnieren baumeln. Er dürfte eher um die acht sein. Doch dank Mais und Dorsch ist er groß für sein Alter – jedenfalls nach Londoner Maßstäben. Und bis auf seine Umgangsformen ist er in jeder Hinsicht frühreif.
    Enoch könnte antworten: Ja, ich komme aus Europa, wo ein Junge einen alten Mann, wenn überhaupt, mit Sir anredet . Stattdessen bleibt er an der eigenartigen Nomenklatur hängen. »Europa«, wiederholt er, »nennt ihr es hier so? Dort sagen die meisten Leute Christenheit .«
    »Aber wir haben hier doch auch Christen.«
    »Du meinst also, das hier sei die Christenheit«, sagt Enoch, »aber wie du siehst, bin ich von woandersher gekommen.Vielleicht ist Europa tatsächlich der bessere Ausdruck, wenn ich es mir recht überlege. Hmm.«
    »Wie nennen es denn andere Leute?«
    »Erscheine ich dir etwa wie ein Schulmeister?«
    »Nein, aber Ihr sprecht wie einer.«
    »Du verstehst etwas von Schulmeistern, wie?«
    »Ja, Sir«, antwortet der Junge und zögert ein wenig, als er merkt, dass die Klemmbacken der Falle auf sein Bein zuschwingen.
    »Andererseits ist jetzt heller Montag...«
    »Es war niemand da, wegen der Hinrichtung. Ich wollte nicht bleiben und...«
    »Und was?«
    »...noch mehr Vorsprung vor den anderen gewinnen, als ich bereits habe.«
    »Wenn du einen Vorsprung hast, solltest du dich daran gewöhnen – und nicht einen Dummkopf aus dir machen. Komm, du gehörst in die Schule.«
    »Schule ist da, wo man lernt«,
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