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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver
Autoren: Neal Stephenson
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für Satan persönlich, der gekommen ist, die Seele der Hexe in die Hölle zu befördern, und verkündet diese Meinung auch unverzüglich der Schar seiner Anhänger. Während er spricht, starrt der Prediger Enoch unverwandt an.
    Enoch verspürt die erhöhte, nervenaufreibende Anspannung, die ein Vorläufer der Furcht ist. Was sollte sie daran hindern, ihn wegen Hexerei zu hängen?
    Was für ein Bild gibt er für diese Leute wohl ab? Ein Mann von undefinierbarem Alter, aber offensichtlich großer Lebenserfahrung, silbernes Haar, das ihm in einem Zopf den Rücken herabfällt, kupferroter Bart, blassgraue Augen und eine Haut, die wettergegerbt und narbig ist wie die rindslederne Schürze eines Schmieds. Gekleidet in einen langen Reiseumhang, hat er am Sattel eines bemerkenswert schönen Rappen einen Wanderstab und ein altmodisches Rapier festgeschnallt. In seinem Gürtel zwei Pistolen, so auffällig, dass Indianer, Wegelagerer und französische Marodeure, die im Hinterhalt lauern, sie deutlich sehen können (er würde sie gerne den Blicken entziehen, aber jetzt nach ihnen zu greifen erscheint nicht ratsam). Satteltaschen (sollten sie durchsucht werden) voller Instrumente, Flakons mit Quecksilber und noch seltsameren Inhalten – manche davon, wie sie erfahren würden, ziemlich gefährlich -, Bücher in Hebräisch, Griechisch und Latein, die übersät sind mit den geheimnisvollen Symbolen der Alchimisten und Kabbalisten. In Boston könnte es schlecht für ihn ausgehen.
    Doch die Menge versteht das Eifern des Predigers nicht als Ruf zu den Waffen, sondern als Signal, sich unter allgemeinem Gemurmel abzuwenden und zu zerstreuen. Die Rotröcke feuern mit einem tiefen Zischen und Donnern, wie wenn Hände voll Sand auf eine Kesselpauke geschleudert werden, ihre Musketen ab. Inmitten der Kolonisten steigt Enoch vom Pferd. Er wirft sich den Umhang über die Schulter, verbirgt auf diese Weise die Pistolen, zieht sich die Kapuze vom Kopf und gleicht so einfach einem weiteren müden Pilger. Er vermeidet es, irgendjemanden direkt anzuschauen, lässt aber aus den Augenwinkeln seinen Blick über ihre Gesichter huschen und wundert sich, nicht mehr Selbstgerechtigkeit darin zu entdecken.
    »So Gott will«, sagt ein Mann, »war das die Letzte.«
    »Meint Ihr, die letzte Hexe, Sir?«, fragt Enoch.
    »Die letzte Hinrichtung meine ich, Sir.«
    Wie Wasser den Fuß steiler Hügel umfließt, überqueren sie einen Friedhof am südlichen Rand des Common, der schon voll ist mit verstorbenen Engländern, und folgen dem Leichnam der Hexe die Straße hinunter. Die Häuser bestehen zum größten Teil aus Holz, ebenso die Kirchen. Die Spanier hätten hier eine einzige große Kathedrale aus Stein erbaut, mit Goldverzierungen im Innern, aber die Kolonisten können sich auf nichts einigen, sodass man sich eher wie in Amsterdam vorkommt: kleine Kirchen in jedem Häusergeviert, manche davon kaum von Scheunen zu unterscheiden, in denen ganz sicher gepredigt wird, dass alle anderen in die Irre gehen. Immerhin können sie einen Konsens darüber erzielen, eine Hexe zu töten. Sie wird zu einem neuen Friedhof gebracht, den sie aus irgendeinem Grund unmittelbar neben dem Kornspeicher angelegt haben. Es fällt Enoch schwer zu entscheiden, ob dieses Zusammentreffen – dass sie ihre Toten und ihr wichtigstes Nahrungsmittel am selben Ort aufbewahren – eine Art Botschaft der Stadtältesten oder einfach nur geschmacklos ist.
    Enoch, der mehr als eine Stadt hat brennen sehen, erkennt entlang der Hauptstraße die Narben einer großen Feuersbrunst. Man ist dabei, Häuser und Kirchen aus Ziegeln oder Steinen wieder aufzubauen. Er gelangt an die vermutlich größte Kreuzung in der Stadt, wo die vom Stadttor kommende Straße eine andere, sehr breite kreuzt, die geradewegs zum Meer führt und in einen langen Kai mündet, der weit in den Hafen hinausragt und einen zerfallenen Wall aus Steinen und Baumstämmen quert: die Überreste eines nicht mehr benutzten Deichs. Der lange Kai ist von Baracken gesäumt. Er reicht so weit ins Hafenbecken hinaus, dass eins der allergrößten Kriegsschiffe der Navy an seinem Ende anlegen kann. Wenn er den Kopf in die andere Richtung dreht, sieht er, dass an einem Hang Artillerie in Stellung gegangen ist und blau berockte Kanoniere einen fassartigen Mörser bedienen, bereit, eiserne Bomben in hohem Bogen auf das Deck einer jeden französischen oder spanischen Galeone zu werfen, die sich unbefugt in die Bucht wagt.
    Indem er nun im Geist
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