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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger
Autoren: Silvia Roth
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ausgebrannte Aluschälchen von Teelichtern und längst erloschene Grablichter. Rotes Plastik mit goldenen Deckeln. Unmittelbar neben dem Eingang hingen mit Klebestreifen befestigte Briefe an der Hauswand. Letzte Grüße, Worte der Anteilnahme und des Schmerzes, einige durch Klarsichthüllen geschützt, andere bereits unleserlich verwaschen von den Schauern der letzten Tage.
    Winnie Heller umrundete den Altbau, weil sie wusste, dass es seitlich davon, an der Grenze zum Nachbargrundstück, eine Mauer gab, die sich relativ problemlos überwinden ließ. Dort angekommen, suchte sie eine Weile nach einer geeigneten Stelle, bevor sie mit einem beherzten Sprung auf dem weitläufigen Schulhof landete. Anders als noch vor vier Tagen lagen die Gebäude fast völlig im Dunkeln, und vor Winnie Heller erhob sich, drohend wie ein düsteres Bergmassiv, die Rückfront des Clemens-Brentano-Gymnasiums. Sie beschloss, sich an die Kastanien zu halten, deren nach wie vor dichtes Laub nicht allzu viel Mondlicht durchließ. Während sie über den staubigen Asphalt huschte, ließ sie ihre Blicke unablässig über die hohen Fensterfronten gleiten. Die blinden Scheiben schienen ein Eigenleben zu führen, und von Zeit zu Zeit hatte Winnie Heller fast den Eindruck, als blinzelten sie. Aber das lag am Mond, der immer wieder unvermittelt durch die Wolken brach und den Schatten der umstehenden Bäume gestochen scharfe Konturen verlieh.
    Sie war gerade auf Höhe des Zwischengebäudes, als sie den Vibrationsalarm ihres Handys an ihrem Körper spürte.
    »Ja, Heller.«
    »Gott sei Dank.« Das war Verhoeven. »Wo sind Sie?«
    »Auf dem Schulhof. Hat Bredeney Ihnen …«
    »Ja«, fiel er ihr sofort wieder ins Wort. »Aber es gibt ein Problem.«
    Winnie Heller merkte, wie ihr kalt wurde. »Was denn?«
    »Laurin ist nicht in seiner Wohnung.«
    Das wundert mich nicht, dachte sie. Immerhin hat er noch etwas zu erledigen!
    »Hören Sie, bleiben Sie, wo Sie sind, okay?«, riss die Stimme ihres Vorgesetzten sie ins Hier und Jetzt zurück. »Wir sind in spätestens zehn Minuten bei Ihnen. Und bis dahin …« Verhoeven unterbrach sich. »Wo sind die Kollegen, die das Gebäude überwachen sollen?«, hörte Winnie Heller ihn fragen.
    Die Antwort der Zentrale war nichts als eine rauschende Lautsuppe. Dennoch gelang es ihr, ein paar Worte aufzuschnappen. »… Team auf der anderen Seite … Da scheinen ein paar Chaoten … und ein Fenster eingeschlagen.«
    »Ziehen Sie sie von da ab«, sagte Verhoeven. »Meine Partnerin braucht …«
    »Nein, auf keinen Fall«, protestierte Winnie Heller flüsternd, wobei sie inständig hoffte, dass ihr Vorgesetzter das Handy noch am Ohr hatte. »Keine Streife! Laurin ist vorsichtig. Wenn er tatsächlich herkommt und irgendwelche Uniformen zu Gesicht kriegt, taucht er unter, und die Sache ist ein für alle Mal gegessen.«
    Verhoeven zögerte. »Zentrale?«, hörte sie ihn gleich darauf wieder in sein Funkgerät sprechen. »Die Kollegen sollen sich unauffällig vor dem Gebäude postieren und die Ausgänge im Auge behalten. Und geben Sie Lars Höppner Bescheid. Er soll ein paar von seinen Leuten zur Clemens-Brentano schicken. Alles Weitere erfährt er von mir.«
    Winnie Heller hörte ein diffuses Knirschen, als die Kollegin in der Zentrale Verhoevens Order weitergab. Dann wandte sich ihr Vorgesetzter wieder direkt an sie.
    »Die Kollegen sind angefordert.«
    »Alles klar.«
    »Und Winnie …«
    Winnie?! Sie runzelte die Stirn. So hatte er sie ja noch nie genannt … »Ja?«
    »Bleiben Sie weg da, verstanden? Ganz egal, was passiert.«
    »Ich bin doch nicht …«, setzte sie an, doch im selben Moment registrierten ihre Augen etwas, das sie stutzig machte. Es war am Eingang zum Neubautreppenhaus, das eben in ihr Blickfeld gekommen war. Ein Blitzen, wie eine kurze Reflexion von Licht auf einer Glastür. »Warten Sie! … Ich glaube, ich sehe da was«, flüsterte sie in ihr Handy, indem sie ihre Schritte beschleunigte. »Da … Ja, verflucht, da ist jemand!«
    »Wo sind Sie gerade?«
    Dieser Kerl fragte immer dasselbe, dachte Winnie Heller. Laut sagte sie: »Immer noch unter den Kastanien. Aber ich glaube, da ist gerade jemand durch die Tür zum Neubautreppenhaus.«
    »Sie gehen auf keinen Fall allein da rein, haben Sie verstanden?«
    »Aber …«
    »Denken Sie nicht mal dran«, fiel Verhoeven ihr ins Wort, und seine Stimme war von schneidender Eindringlichkeit. »Warten Sie, bis Sie Verstärkung haben.«
    »Das dauert zu
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