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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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hellerem Blond als sein eigenes, hatte sich aus den Spangen gelöst, vielleicht in einem Ast verfangen. Mom merkte das nicht, wenn sie so war wie jetzt.
    Mondsüchtig, echote Dads Stimme in seinem Kopf.
    Verzweiflung presste sein Herz zusammen. Diese Phasen kamen und gingen bei Mom. Und jetzt hatte die Schwärze, der dunkle Abgrund in ihrem Kopf, wieder die Herrschaft übernommen. Zum Glück gab es nur drei Stellen in der Gegend, an denen Apfelbäume wuchsen. Ken musste nie lange suchen.
    »Mom?«, fragte er halblaut. »Alles okay?«
    Das Licht zuckte hoch und blendete ihn, sodass er ihr Gesicht nicht länger sehen konnte.
    »Mom!«
    Sie senkte die Lampe. Mit drei großen Schritten war er bei ihr, packte ihr Handgelenk und entwand ihr das Ding. »Mom, alles in Ordnung?«
    »Hast du mein Päckchen?« Die Silben schwappten wie trübes Wasser über ihre Lippen, wie immer, wenn sie nicht sie selbst war. Um ihren Mund spielte ein rätselhaftes Lächeln und ihre Augen blickten ihn zwar an, aber so, als wäre er durchsichtig.
    Er packte ihre Schulter und schüttelte sie. Manchmal holte sie das in die Realität zurück. Manchmal. Nicht immer. »Mom! Was machst du hier?«
    »Ich –« Sie legte die Stirn in Falten, als müsste sie scharf nachdenken. »Es ist hier irgendwo. Ich muss es nur finden.« Weit holte sie mit dem Arm aus und deutete auf einen Baum, dessen Blattwerk fast den Boden berührte. »Ich muss nur genau hinhören.« Ihre Lippen bewegten sich zu einer stummen Melodie.
    Ich muss es nur finden.
Moms Mantra unter den Apfelbäumen.
    »Was musst du finden?«
    Sie antwortete nicht, sondern lächelte nur. Sie antwortete nie auf diese Frage.
    »Mom, lass uns nach Hause gehen. Ich hab dein Päckchen.«
    »Wo?«
    »Hier. Im Rucksack.«
    »Gib es mir.«
    »Wir gehen nach Hause und dann –«
    »Gib es mir!«, schrie sie ihn an.
    »Schon gut.« Er zuckte vor ihrem Ausbruch zurück. So hatte er sie noch nie erlebt. Normalerweise ließ sie sich widerstandslos zum Haus zurückführen. »Schon gut.«
    Was sollte er machen, wenn sie durchdrehte? Sie mit der Holzlatte niederschlagen? Seine Übelkeit verstärkte sich.
    »Mach schon!« Ihre Hand schoss vor und packte den Trageriemen seines Rucksacks und zerrte so heftig daran, dass sie ihn beinahe aus dem Gleichgewicht riss.
    Er zog seinen Arm aus dem Gurt, sodass der Rucksack ins Gras fiel. Sie stürzte sich darauf wie eine Furie. Jetzt bekam er es wirklich mit der Angst zu tun. Er wich zurück und sah zu, wie sie das Päckchen zerfetzte. Mit den Fingernägeln trennte sie das Klebeband auf und riss die Pappe einfach entzwei.
    Obwohl er die Taschenlampe darauf richtete, konnte er nicht erkennen, was darin lag. Aber sie schien es ganz genau zu wissen, wühlte mit einer Hand darin herum, Metall klingelte gegen Metall. Sie zog einen kleinen Gegenstand heraus, und für eine Sekunde fing sich Licht in den Flächen. Ein großer Schmuckanhänger, ein Amulett … dann schloss sie die Finger zur Faust. Von irgendwoher brachte sie einen Apfel zum Vorschein und biss hinein, während sie auf einen Baum zusteuerte und sich unter den tief hängenden Ästen hindurchbückte.
    Sie umrundete den Stamm, starrte auf das Ding in ihrer Hand und presste die Lippen zu einem zornigen kleinen Strich zusammen. Plötzlich schien es überall im Gras zu rascheln. Der Wind frischte auf.
    »Mom, was machst du da?«
    Wortlos ließ sie das Schmuckstück fallen und wühlte ein neues aus dem Karton. Mit dem angebissenen Apfel in der einen Hand und dem Anhänger in der anderen marschierte sie um den Baum herum. Ihr Haar blieb in den Zweigen hängen, doch sie achtete nicht darauf.
    Sie wiederholte die Zeremonie ein halbes Dutzend Mal, bis der letzte Anhänger im Päckchen verbraucht war. Ken stand wie angewurzelt und versuchte zu begreifen, was sie da tat. Ihre Verwirrung hatte eine neue Dimension erreicht. Wenn er sie früher unter den Apfelbäumen entdeckt hatte, dann stand sie einfach da, als könnte sie sich nicht erinnern, was sie hergeführt hatte. Aber das hier –
    Als sie feststellte, dass der Karton leer war, breitete sich abgrundtiefe Verzweiflung auf ihrem Gesicht aus. Sie ließ den Apfel fallen und starrte den Baum an. Mit ihren hängenden Schultern und dem wirren Haar wirkte sie alt. Das Mondlicht verwandelte sie in ein verhärmtes Spukgespenst. Dabei war sie doch schön.
    Kens Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Er legte die Holzlatte ins Gras und näherte sich ihr, zog sie in die Arme und atmete ihren
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