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Puppentod

Titel: Puppentod
Autoren: Katharina Winter
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Wale den weiten Weg auf sich und kommen nach Samaná. Jedes Jahr, immer zur gleichen Zeit und immer in die gleiche Bucht, als hätten sie ein inneres Navigationssystem. Es macht riesigen Spaß, sie zu beobachten, vor allem, wenn sie ihre Liebesspielchen spielen.«
    »Was spielt denn so ein Wal, wenn er verliebt ist?«, fragte Michael gut gelaunt. Das Thema gefiel ihm ausgezeichnet.
    »Er singt«, sagte Lisa. »Um ihre Weibchen zu erobern, fangen die Walbullen an zu singen. Man kann ihnen dabei zuhören, es klingt sehr schön.«
    Er verzog sein Gesicht. »Stell dir vor, das wäre bei den Menschen auch so. Dann hätten viele Männer keine Frau.«
    »Und du?«, fragte Lisa. »Hättest du eine?«
    Er lachte. »Höchstens eine, die Mitleid mit mir hätte.«
    Er bog in eine kleine Straße ein, während Lisa auf ein mehrstöckiges Mietshaus zeigte.

    »Dort vorne wohne ich«, sagte sie.
    Er hielt an, zwängte den Wagen in eine schmale Parklücke, stellte den Motor ab und drehte sich zu ihr. Ihre schönen schwarzen Augen machten ihn verlegen. Eine Weile saßen sie schweigend da, bis sie zögernd fragte: »Möchtest du mit hochkommen? Vielleicht auf eine Tasse Tee?«
    Natürlich wollte er.
    Sie stiegen aus und gingen in das Haus. Es machte einen ungepflegten Eindruck. Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl, Pellkartoffeln und billigem Parfüm.
    Unter jedem Schritt knarrten die abgenutzten Stufen der Holztreppe, die sich wie eine Spirale nach oben wand. Lehnte man sich übers Geländer, konnte man bis hinauf zum Dach schauen und bis zu Lisas kleinem Appartement. Es lag im sechsten Stock, und Michael war ziemlich außer Atem, als er oben ankam, während Lisa, die ruckzuck hinaufgespurtet war, bereits die Tür aufgeschlossen und die Wohnung inspiziert hatte. Es schien alles in Ordnung zu sein.
    Die Wohnung war klein - sehr klein - und sehr eng. Sie bestand aus nur einem einzigen Wohnraum, einer Miniküche und einem Bad.
    Während Lisa in der Küche verschwand, stellte Michael die Reisetasche ab und sah sich um. Links stand ein Bett mit einem Eisengestell, rechts ein Kleiderschrank, der statt Türen nur weiße Vorhänge hatte, daneben ein Tisch und zwei Stühle. Das war alles. Es gab keinen Fernseher, kein Telefon, keine Bilder, keine Fotos, keine Bücher
oder irgendetwas Persönliches, was daran erinnerte, dass hier jemand wohnte. Wahrscheinlich steckten all diese Dinge in den wenigen an der Wand aufgestapelten Umzugskartons.
    Michael ging zu dem einzigen Fenster, das es gab, einem Dachfenster in der Schräge, und schaute in den wolkenverhangenen Himmel, als plötzlich ein rotes Licht den Raum durchzuckte.
    »Schrecklich, nicht wahr?«, sagte Lisa, die gerade mit zwei Tassen Tee hereinkam, aus denen die Etiketten der Teebeutel baumelten. »Das ist die Leuchtreklame vom Haus gegenüber. Daran konnte ich mich nie gewöhnen.«
    Sie stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich auf einen der Stühle. Sie hatte noch immer ihre Jacke an. Kein Wunder, hier drin war es bitterkalt.
    »Soll ich die Heizung aufdrehen?«, fragte Michael.
    Sie nickte, während sie fröstelnd mit beiden Händen die heiße Tasse umfasste.
    »Wir könnten etwas essen gehen, so lange, bis es hier ein bisschen wärmer geworden ist«, schlug er vor.
    Aber Lisa schüttelte den Kopf.
    »Woher wusstest du eigentlich, mit welcher Maschine ich komme?«, wollte sie wissen.
    Vielsagend zuckte er mit den Schultern, ohne ihr eine Antwort zu geben. Er wollte sie nicht belügen, ihr aber auch nicht erzählen, dass er über den ganzen Flughafen gehetzt und schon kurz davor gewesen war, sich selbst ein Ticket in die Karibik zu kaufen.
    Stattdessen fragte er: »Wie lange wirst du bleiben?«

    Sie nippte an ihrem Tee. »Genau eine Woche. Das Rückflugticket für nächsten Freitag habe ich bereits in der Tasche.«
    »Hast du nicht doch Hunger?«, vergewisserte er sich, in der Hoffnung, sie überreden zu können.
    Lisa jedoch verneinte. »Der Flug war lang. Ich brauche jetzt erst einmal Schlaf.«
    Dafür hatte er Verständnis und schlürfte schnell seinen Tee aus, um sich kurz darauf zu verabschieden.
    »Aber morgen gehst du mit mir essen, nicht wahr?«, fragte er, als er schon an der Tür stand.
    Daraufhin sah sie ihn eine ganze Weile an, ohne etwas zu sagen. Sie schien zu überlegen, ob sie einwilligen sollte. Ihr Zögern machte ihn noch verrückt. Was gab es denn da zu überlegen? Sie glaubte doch nicht im Ernst, ihm entkommen zu können? Er konnte sehr hartnäckig sein,
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