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Puppentod

Titel: Puppentod
Autoren: Katharina Winter
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Mädchen blond war. Er hat sie einfach erschossen. Und danach ist dein Vater gekommen und hat zu ihm gesagt: Schaff sie ins Bootshaus. «
    Entsetzt blickte Michael seinen Vater an. Der aber stand noch immer mit bewegungsloser Mimik unter seinem schwarzen Schirm und wirkte wie ein Eisblock, den nichts zum Schmelzen brachte. Das Leid, das er anderen zugefügt hatte, interessierte ihn nicht. Nichts erreichte seine Seele. Die hatte bereits der Teufel geholt. Lisas Schmerz berührte ihn nicht und auch nicht ihre Tränen.
    Michael nahm ihre Hand und zog sie vom Bootshaus weg. Sie schluchzte so sehr, dass er sie in den Arm nehmen, berühren und festhalten wollte, doch sie schien von einem unsichtbaren Nebel umgeben - einem Nebel aus Verzweiflung und Schmerz -, der es unmöglich machte, sie zu erreichen. Zu mächtig waren die Dämonen der Vergangenheit.
    »Was ist damals passiert?«, fragte er.
    In ihren schwarzen Augen lag so viel Traurigkeit. »Wir kamen aus Haiti«, erzählte sie, »und waren illegal in Deutschland, meine Mutter, meine große Schwester Fabiana,
meine kleine Schwester Sina und ich. Meine Mutter wollte einen Antrag stellen, dass wir bleiben dürfen, und war sicher, dass sie uns nicht fortschicken würden. Sie hat davon geträumt, dass wir eines Tages in Deutschland zur Schule gehen und ein besseres Leben haben als sie. Der Puppendoktor hatte uns in sein Haus aufgenommen und meiner Mutter die Arbeit bei MediCare besorgt, wo sie jeden Abend für einen Hungerlohn die Büros putzte. Es war nur ein Zufall, dass sie mit ansah, wie dein Vater Frank Berger erschoss. Sie lief weg, doch es war zu spät. Dein Vater hatte sie bemerkt. Ganz aufgeregt kam sie nach Hause und erzählte uns, was passiert war.
    Lisa, ein Mädchen aus dem Dorf, war gerade bei uns, obwohl es schon spät am Abend war. Aber Lisa hatte zum Geburtstag eine neue Puppe geschenkt bekommen und war heimlich von zu Hause ausgerissen, um sie mir zu zeigen. Sie kam oft zu uns zu Besuch. Erst fanden wir es nur lustig, dass unsere Namen so ähnlich klangen, aber bald wurden wir richtige Freundinnen. Meine Mutter hatte große Angst an diesem Abend und beratschlagte mit dem Puppendoktor, was sie tun sollte. Sie konnte ja nicht zur Polizei gehen, das war unmöglich. Wir Kinder aber nahmen das alles nicht so ernst und spielten miteinander Verstecken. Deshalb stand ich auch hinter dem schweren Samtvorhang, als plötzlich die Tür eingetreten wurde und Harry hereinplatzte. Es ging alles ganz schnell, und es war auch nicht laut. Es gab nur ein paar dumpfe Geräusche, und schon war es vorbei. Lediglich der Puppendoktor hat gewimmert, als Harry ihm die
Schlinge um den Hals legte und ihn an der Decke aufhängte. Man sollte glauben, der alte Mann habe sich das Leben genommen. Schließlich konnte er den Mann nicht einfach so verschwinden lassen. Ihn hätte man vermisst. Mit meiner Familie hingegen war es leichter, denn nach uns fragte niemand.« Sie schaute auf den See hinaus, und es dauerte eine Weile, bis sie weiterreden konnte.
    »Irgendwann im Morgengrauen lief ich durch den Wald ins Nachbardorf, zu der einzigen Freundin, die meine Mutter hatte. Ich weiß bis heute nicht, wie sie es angestellt hat, aber sie schaffte es, mich in ein Flugzeug zu setzen, das mich zurück in die Dominikanische Republik brachte. Ich war damals zehn Jahre alt, genau wie Lisa, und habe fortan nur noch dafür gelebt, mich eines Tages an Rudolf Westphal zu rächen. Letztes Jahr, kurz vor Weihnachten, bin ich zu Lisas Mutter gegangen. Ich habe ihr erzählt, was in dieser Nacht geschehen ist, und ich habe sie in meinen Plan eingeweiht. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank und wusste, dass sie sterben würde. Sie hat mir Lisas Geburtsurkunde gegeben, damit ich, sollte es erforderlich sein, ihre Identität annehmen kann. Zuerst habe ich gezögert, aber dann habe ich mich entschlossen, Lisas Namen zu benutzen. So wurde es auch ihre Rache, und außerdem hatte ich Angst, dass dein Vater eine Ausländerin in seinem Haus nicht dulden würde.«
    Weinend griff sie nach Michaels Hand und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Es tut mir so unendlich leid, dass ich dich in diese schreckliche Geschichte hineingezogen habe. Aber ohne diese Rache hätte ich nicht überlebt.
Ich wäre zugrunde gegangen, hätte ich nicht gewusst, dass ich Rudolf Westphal zerstören werde. Nun habe ich auch dich zerstört. Verzeih mir, Michael. Bitte verzeih mir.« Sie hauchte einen letzten Kuss auf seine Wange.
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