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Pringle vermisst eine Leiche

Pringle vermisst eine Leiche

Titel: Pringle vermisst eine Leiche
Autoren: Nancy Livingston
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dem
Friedhof da begraben. Enid und ich sind bei ihr aufgewachsen, nachdem wir
ausgebombt waren.»
    «Viele Londoner sind während
der deutschen Luftangriffe auf dem Land evakuiert gewesen. Das ist noch lange
kein Grund, sich ins Auto zu setzen und ein Grab zu besuchen, noch dazu, wo du
sowieso schon deprimiert bist. Und dann ausgerechnet noch aufs Land. Das ist
schlecht für deine Stimmung und für dein Cholesterin.»
    Aber Mr. Pringle hatte die
Ahnung angeweht, daß er sterblich sei. Noch gestern war ihm Zeit als etwas
Unendliches erschienen, doch seit heute wußte er, daß seine Zeit
begrenzt war. Und als ehemaliger Beamter in Ihrer Majestät Finanzverwaltung
konnte er noch nicht einmal darauf hoffen, daß sein Hinscheiden große Trauer
auslösen würde. In seiner niedergedrückten Stimmung malte er sich aus, wie sein
Sarg dereinst in einer leeren Kirche stehen würde, von einem einzigen kleinen
Blumenstrauß geschmückt, auf dessen Schleife zu lesen wäre: ‹Einem lieben
Freund in stillem Gedenken — Mavis Bignell›.
    Sein Entschluß stand fest. Wenn
die Japaner mit ihren verstorbenen Vorfahren Verbindung hielten, warum sollte
G. D. H. Pringle es ihnen nicht gleichtun? Und wer weiß, vielleicht hatte es ja
eine tröstliche Wirkung.
    Die Landkarte stimmte. Links
von der Autobahn tauchte das quadratische Symbol von English Heritage auf,
darunter stand: KIRCHE VON WUFFINGE PARVA, HISTORISCHES BAUDENKMAL
(ANGELSÄCHSISCH). Allerdings gab es in dieser Fahrtrichtung keine Ausfahrt.
Erst dreißig Kilometer später konnte er die Autobahn verlassen, fuhr zur
gegenüberliegenden Auffahrt und fädelte sich wieder in den brausenden Verkehr ein,
jetzt in der Gegenrichtung. Bald glitt Wuffinge Parva zum zweitenmal an ihm
vorüber, diesmal auf der anderen Seite. Er hatte das Gefühl, daß sein Allegro und auch er selbst eine kleine Rast brauchen könnten.
    Die Kellnerin im Happi-Cuppa erkundigte sich: «War’n Sie schon mal hier?»
    «Ja, während des Krieges.»
    «Aber dann nehmen Sie doch
denselben Weg wie früher!»
    So verließ er sich auf sein
Gedächtnis und folgte schmalen, gewundenen Sträßchen mit ab und zu einer
Ausweichstelle. Er passierte eine gewölbte kleine Brücke über den Wuffen, bog
um eine Kurve und bremste abrupt. Vor ihm lag das Dorf, die einfachen Häuser
wirkten wie aus einem Bilderbuch.
    Er holte tief Luft und
erinnerte sich des großen Gelehrten, der vor mehr als zweihundert Jahren
Wuffinge Parva einen kurzen Besuch abgestattet hatte: «Ein häßlicher Ort»,
hatte Dr. Johnson damals an seinen Freund Boswell geschrieben, «ohne
irgendwelche Vorzüge, um derenthalben man ihn empfehlen könnte.»
    «Hier hat sich nichts
verändert», murmelte Mr. Pringle tief befriedigt. Doch da irrte er sich.
     
    Der Wuffen bildete die südliche
Grenze zwischen den Gemarkungen von Wuffinge Parva und Wuffinge Magna, das im
15. Jahrhundert durch den Niedergang des Weberhandwerks ein Großteil seiner
Bewohner verloren hatte. Der Rest war dann im 19. Jahrhundert vertrieben
worden, als die ersten Kapitalisten das Gemeindeland gewaltsam in
profitträchtige Schafweiden umwandelten. 1971 hatte man auf eben diesem Gelände
eine riesige weiße Kläranlage errichtet — und zwar genau in der Einfallsschneise
der hier vorherrschenden Westwinde. Ein passendes Denkmal, recht betracht.
    «Wann wird der Wohlgeruch neu
strö-hömen», sang der Chor in der Kirche von Wuffinge Parva. Die Antwort
brachte der Wind. Sie war immer negativ.
    Mr. Pringle hatte sein Wagenfenster
hochgekurbelt und genoß den vertrauten Blick auf das grüne Dreieck des
Dorfangers. Die Straße, auf der er gekommen war, führte am Anger vorbei weiter
nach Norden. Sie bildete die Dorfstraße von Wuffinge Parva. Im rechten Winkel
zu ihr verlief ein alter Pfad, der von einer Reihe strohgedeckter kleiner
Häuser gesäumt wurde, deren feuchte Fundamente in periodisch überfluteten
Flußwiesen gründeten. Die Gärten an ihrer Rückseite erstreckten sich bis
hinunter zum Ufer des Wuffen. Dies waren die ältesten Häuser des Dorfes.
Während des Krieges waren sie als unhygienisch und baufällig zum Abbruch
bestimmt gewesen, doch dann hatte sich der Geschmack gewandelt. Jetzt waren die
Häuser in grellen Bonbonfarben gestrichen, und man riß sich um sie.
    Mr. Pringle starrte sie
verblüfft an. Zu seiner Zeit waren sie stets von irgendwelchen alten Weiblein
bewohnt gewesen, die in ihrem Kampf gegen Feuchtigkeit, Rheumatismus und
Schmutz auf verlorenem Posten standen. Er
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