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Postkarten

Titel: Postkarten
Autoren: Annie Proulx
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war es eigentlich ein Feldweg. Auf dem Rücken sein Bündel, ein paar Utensilien, zerlumpte Kleider zum Wechseln, ein Packen Papier, Bleistiftstummel, eine Dose Instantkaffee, ein Plastikrasierer mit stumpfer Klinge. Kilometer hinter ihm lag der Fulgurit in einem geheimen Grab versteckt. Nur er kannte die Stelle.
    Die Flecken Himmel zwischen den Bäumen waren fahl. Er hatte kein Gefühl für den Tag, spürte nur, daß es trocken und kalt war. Als er durch die Bäume eine hoch gelegene Wiese sah, hielt er instinktiv darauf zu, angezogen von der Möglichkeit einer guten Aussicht.
    Während er sich durch Pappeln und Birken mühte, wurde die Luft milder von flutendem Licht. Atemlos, hustend erreichte er die Wiese, war enttäuscht, daß es sich nur um eine Schneise im Wald handelte, eine von Flechten und rötlichen Erdbeerblättern überzogene Lichtung, aber er konnte nicht sagen, was er erwartet hatte. Er war um so viele Ecken gekommen, daß sie alle gleich aussahen.
    Die Wiese war so, wie er sich den Sommer in Rußland vorstellte, zerbrechlich und leer. Jetzt sah er mehr vom Himmel. Federwolken und Schäfchenwolken, Eiskristallstreifen. Es war ein hoher Himmel, in der Stratosphäre windgepeitschte Zirruswolken wie Striche mit dem Malerpinsel. Am Ende der Striche schimmernde Kritzeleien wie arabische Schriftzeichen. Die Wolken breiteten sich in rauschenden Wellen nach Norden aus, ein breiter, mit Federn besetzter Fächer. Er drehte sich um und blickte nach Süden, wo die Zirrokumuluswolken den Himmel mit dichten, perlgrauen Rippen bedeckten. Schönes, klares Wetter.
    »Wenn der Vogelflug vorüber ist,
    Wenn die müden Schwingen ruhen«, murmelte er.
    Am Rand der Lichtung hob er einen halb verfaulten Ast auf. »Darf ich bitten, Liebling? ›Wenn der Vogelflug vorüüüber ist‹«, plärrte er, stolperte dabei auf den Mooskissen herum, hielt sich den Ast an die Taille, schwenkte ihn hin und her, neigte ihn so tief, daß das Haar einer Frau den Boden berührt hätte, kurze Hüpfer und Dreher, ein alter Mann mit Hummeln in der Hose. Er fiel fast hin. »Bringst mich zum Stolpern, du Ziege. Fort mit dir.« Keuchend, spuckend vor Husten. Er schleuderte den Ast fort, freute sich, als dieser in einem Regen aus roten Spänen zerbrach. Seine Einsamkeit war nicht unschuldig. Unter dem Ansturm des Hustens vibrierte er, als wäre sein Körper geschlagen worden, wie ein gespanntes Ankerseil, auf das Eisen prallt, Tränen krochen durch die Rinnen seines verzerrten Gesichtes, er stand auf der stillen Wiese und hatte nicht einmal einen verfaulten Ast.
    Er dachte: Ich bin fast hin.
    Und sah den blauen Fetzen Holzrauch aus einem Loch zwischen den Bäumen aufsteigen.
    Er stellte sich vor: Einen Mann und eine Frau, die an einem Tisch sitzen. Ein Tischtuch mit Fransen hängt auf den Boden, ihre Füße sind zwischen den Falten versteckt. Die Frau nimmt eine herzförmige Erdbeere, keine Walderdbeere, aus einer Obstschale. Ihre Hand, ihr Arm, ihr Gesicht sind verschwommen, aber die Erdbeere funkelt hell, sie hält den Stiel zwischen Zeigefinger und Daumen, die Daumenspitze berührt den abstehenden Kelch. Die schwarzen Samen stecken wie Kommas in den roten Poren. Der Mann ist er selbst.

56
    Das Gesicht im Moos

    Die Frau auf der Terrasse des Silver-Salmon-Restaurants in Minneapolis beugte sich vor. Sie trug ein knöchellanges, magentarotes Baumwollkleid. Die Schultern des Kleides waren gepolstert. Ihr rotes Haar war zu Wellen gekräuselt, die chinesischen Nudeln ähnelten, und reichte bis auf ihre Brüste. In ihrem Haar, sah ihr erster Ehemann, steckte ein Stück gebrauchte Zahnseide. Vielleicht war das eine neue Mode. Er hörte ihr zu, betrachtete ihre bloßen Füße, die gelben Schwielen auf ihren Zehen. Die stammten von zu engen Schuhen. Sie hatte ihre Schuhe unter den schmiedeeisernen Stuhl geschoben. Sie zündete sich noch eine Zigarette an.
    »Weißt du, was er zu mir gesagt hat?« fragte sie. »Er hat gesagt: ›Wir fahren dort hinauf, Liebling. Ich habe in der wunderschönen wilden Gegend für einen Monat eine kleine Hütte gemietet. Der stille Himmel und die Rottannen. Ein kleines Kanu, Seetaucher und ein Feuer im Kamin, wenn es nachts kalt ist. Wir werfen Steine ins Wasser, Liebling, und schauen, wie weit sie springen. Wir leben von dem, was die Natur uns gibt. Es wird herrlich.‹« Sie sprach mit der tonlosen Stimme, die wie ein Schieferdach die Traufen des Vergnügens bedeckte, erwähnte nur die Ereignisspitzen, die sie bereuen
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