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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Autoren: Bill Clegg
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sich zu haben meinten, frage mich, wer sie selber waren. Einiges wird mir immer ein Rätsel bleiben – die Gespräche, das große Ballett der Taxis und anderen Wagen, der Drogenjäger und Cops, der JC Penneys – und nie werde ich das so klar durchschauen, dass ich Wahrheit und Trug unterscheiden kann. Von diesen Dingen, diesen Erinnerungen behalte ich nur Eindrücke – wie sie aussahen, sich anhörten, sich anfühlten. Ich erinnere mich, wie ich an jenem Morgen auf dem Balkon im Gansevoort gestanden habe. Die vielen Leute, die um sechs Uhr früh dort herumspaziert sind; die Town Cars und die auf Karten geschriebenen Wörter, deren Sinn mir nicht aufgeht und die ich deshalb schon oft nachschlagen wollte, ohne es jemals zu tun. Ich erinnere mich an die Möwen, die in weiten Bögen über dem Fluss kreisten. Es waren so viele.
     
    Viel später kommt eine Zeit, in der ich mir vorstelle, wie es für die anderen Beteiligten war, diejenigen, die durch Verwandtschaft, Zufall oder Neigung mit mir zu tun hatten. Die Verletzten und Verletzenden. Erstere bringen sich besonders heftig in Erinnerung: die Agenturangestellten, die ihre Jobs verloren haben, die von mir vertretenen Autoren, die auf mich angewiesen waren und sich neue Agenten suchen mussten, Angehörige, Freunde, Kate. Noah. Anfangs vergehe ich vor Scham, Schuldgefühlen und Bedauern, doch mit der Unterstützung verwandter Geister entwickelt sich daraus etwas weniger Selbstbezogenes. Dieses weniger Selbstbezogene wird mit Hilfe derselben verwandten Geister täglich weiter erkundet. Vieles ist nach wie vor Grenzgebiet.
     
    Ich frage mich, wie es für meinen Vater war. Wie die Stunden aus meiner Kindheit, an die ich mich erinnere, für ihn waren. Ob er besorgt war. Wie er die Rückfahrt von dem Arzt in Boston erlebt hat. Und was dann kam. Was ging ihm durch den Kopf, nachdem die Autotüren zugeknallt waren und ich im Haus verschwunden war? Wo ist er hin? In sein Zimmer, um sich einen Scotch einzugießen? Ums Haus, um auf den Ysander zu pinkeln? Oder ist er in der Garage geblieben und hat den Geräuschen des abkühlenden Motors gelauscht, den Schritten über ihm in der Küche? Wie lange mag er da geblieben sein? Dachte er, er könnte etwas verkehrt gemacht haben? Zu hart gewesen sein? Zu streng? Wie hätte sein eigener Vater das angepackt? Was wusste er von dem überhaupt noch? Er war neunzehn gewesen, als sein Vater starb, das lag lange zurück. Damals hatte er studiert, wollte zur Navy und wollte fliegen. Weg von Boston. Düsenjäger, Frachtflugzeuge, ganz egal – Hauptsache, weg. Wie lange lagen die 19 damals für ihn zurück? Wie lange die 6? Sechs Jahre. Was wusste er von sechsjährigen Jungen? Hatte er Angst? Was hat er an jenem Tag wegfallen lassen, um seinen Sohn von Fairfield County, Connecticut, nach Boston zu bringen? Was für Rechnungen wurden nicht bezahlt? Welcher Rasen nicht gemäht? Welches kleine Flugzeug blieb ungewartet oder ungeflogen, damit er etwas tun konnte, um seinem Sohn zu helfen, dem Jungen, der beim Pinkeln jedes Mal herumtanzte, als hätte man ihn in Brand gesteckt? Dem Jungen, dem nach Meinung des Arztes nichts fehlte. Was sollte er da bloß machen? War da nicht Strenge angesagt? Wie lernten Kinder denn sonst? So gingen Väter doch mit ihren Söhnen um, oder nicht?
     
    Ich frage mich, ob er in dieser Art besorgt war. Oder ob er einfach dachte, was kaputt ist, kann man wieder zusammenschustern, und was verbogen ist, wird geradegehämmert.
     
    Ich kehre nach New York zurück und suche mir ein kleines, helles Studio, wo ich von jeder Ecke aus das Empire State Building sehen kann. Am 4. Juli küsse ich jemanden, einen Freund, der mehr als ein Freund wird und mir Geld leiht, damit ich mir das Studio leisten kann. Ich verkaufe eine Fotografie, die ich Jahre zuvor in einem Anfall von Optimismus erstanden hatte, und von dem Erlös und dem geborgten Geld kann ich in New York leben, brauche zum ersten Mal seit meiner Jugend nicht zu arbeiten und finde mit der nötigen Unterstützung einen Weg, die Tage und Nächte durchzustehen, ohne ihnen zu entfliehen. Mit der Zeit ist ein Morgen dann einfach ein Morgen, kein kopfloses Gewusel mehr, um die Folgen einer durchwachten Nacht zu bewältigen, und der Abend wird nicht mehr darauf verwendet, Ausflüchte und Tricksereien für den nächsten Tag zu ersinnen. Tage sind wieder Tage statt Bühnen für die Inszenierung eines komplizierten Theaterstücks, dessen Text, Beleuchtung und Maske darauf
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