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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Autoren: Bill Clegg
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Aufzug. Als ich einsteige, weiß ich nicht mehr, in welchem Stock wir wohnen. Dritter? Ich drücke die Drei und weiß, es stimmt nicht. Fünf? Sechs? Sechs. Sechs. Sechs W. Also drücke ich die Sechs. Die Tür öffnet und schließt sich auf Drei, und einen Moment lang vergesse ich, dass es nicht meine Etage ist und gehe zur Tür. Dann fällt’s mir ein, doch als ich stehen bleibe, geben meine Beine wieder nach, und ich falle hin. Die Tür schließt sich, und als sie sich auf Sechs wieder öffnet, kann ich mich hochrappeln. Die Wohnung liegt rechts vom Aufzug, die letzte Tür links. Ich gehe darauf zu und halte mich die ganze Zeit an der Wand fest. Schließlich komme ich an und sehe das glänzende neue Stahlschloss an der Stelle des alten kupferfarbenen. Ich weiß nicht, wo der Schlüssel geblieben ist, und merke erst, als ich in meinen Taschen krame, dass ich ihn noch in der rechten Hand halte. Jetzt brauche ich nur noch aufzuschließen. Aber irgendwie bekomme ich den Schlüssel nicht ins Schloss. Es muss der falsche sein. Oder wir wohnen im siebten Stock. Oder im vierten. Ich ziele nach dem Schloss, aber meine Hand zittert, und er geht nicht rein. Jetzt wo ich nicht mehr in Bewegung bin, überkommt mich die Schläfrigkeit wie eine Flutwelle. Ich lehne mich neben der Tür an die Wand, kann mich aber nicht aufrecht halten. Ich rutsche ab und halte mich am Türgriff fest, um nicht hintenüber zu fallen. Eine Zeitlang hänge ich schwankend da, und als mir schwarz vor Augen wird, spüre ich im Rücken und auf meinen Armen Hände, die mir den Schlüssel abnehmen. Mich hochziehen. Ich sehe sie an meinen Unterarmen, und sie sind der schönste Anblick überhaupt.
    Hände aus Licht, nicht aus Fleisch, die mich fürsorglich und anmutig umfassen. Noah. Er zieht mich an sich – ein Duft nach Reinigung und Zigaretten –, stützt mich mit einer Hand und schließt mit der anderen die Tür auf. Dabei sagt er etwas, aber die Worte sind zu weit weg. Er will mich aufrecht halten, als sich die Tür öffnet, aber ich kippe schon. Das Licht aus der Wohnung strahlt uns entgegen. Ich falle hinein.

White Plains
    Ein Krankenwagen, der am Lieferanteneingang von One Fifth wartet, bringt mich zum Lenox Hill Hospital. Im Gegensatz zu meiner Krankenwagenfahrt als Zwölfjähriger behalte ich von dieser nichts in Erinnerung – keinen Schwebezustand zwischen Wachsein und Wegsein, kein beruhigendes Zureden. Ich erinnere mich nicht an die Notaufnahme, nicht an den Aufzug zur psychiatrischen Station, nur an den Sturz in der Wohnungstür, Noah hinter mir, das Licht.
     
    Ich erwache allein in einem Zimmer, festgeschnallt in einem Bett, ohne zu wissen, wo ich bin. Erst nach mehreren Minuten begreife ich, dass ich lebe, und dann macht mich das wütend. Schwestern kommen. Ein Arzt. Leute warten vor der Tür – meine Familie, Noah –, aber ich sage den Schwestern, sie sollen niemanden hereinlassen. Wie erstarrt liege ich in dem Zimmer und denke nur eins: Was nun?
     
    Julia, eine Freundin aus Los Angeles, ruft immer wieder an. Dauernd sagen mir die Schwestern, dass sie am Telefon wartet, oder richten mir aus, dass ich sie zurückrufen soll. So geht das tagelang, und bevor ich irgendjemand anderen gesehen oder gesprochen habe, rede ich schließlich mit ihr. Zum ersten Mal stehe ich auf, verlasse das Zimmer und gehe zu dem Münztelefon am Schwesternzimmer.
Hallo
, sage ich, und sie schwallt mir die Ohren voll. Eine Zeitlang sind ihre Worte die einzigen, die ich höre, und sie wiederholt sie ein ums andere Mal, über Wochen, über Monate.
     
    Ich bekomme ein anderes Zimmer. Es ist klein, mit zwei Betten, und blickt auf eine Kirche in der 77th Street hinaus. Als ich hinkomme, ist es leer, kein Zimmergefährte in Sicht. Auf der Kommode steht eine riesige weiße Orchidee. Zwei lange Bambusstäbe mit zugespitzten Enden stützen die Pflanze. Sie ist von Jean, und auf der beigefügten Karte fragt sie, ob ich nicht der Redaktion ihrer Literaturzeitschrift beitreten möchte –
es ist mir immer noch ernst
, steht da, als wäre nichts vorgefallen, und sie schließt
In aller Liebe
. Ich starre auf die Orchidee, die cremeweiße Karte, und frage mich, wen sie da zu kennen und zu lieben meint. Ich nehme einen der Bambusstäbe, breche ihn durch, gehe in das helle, blau gekachelte Bad und fange an, ihn mir ins Handgelenk zu stoßen. Immer fester stoße ich zu, bis die Haut aufbricht und Blut kommt, und dann sehe ich auf einmal, was meine Faust mit dem kleinen
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