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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Autoren: Bill Clegg
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Nacht.
     
    Auf dem Weg zum Bad bitte ich Stephen, mir noch einen Wodka zu bringen. Er vergisst es, und ich halte mich an den Wein.
    Als ich schließlich leicht angesäuselt bin, sehe ich mich am Tisch um und frage mich, wie ich bloß hier landen konnte. Solche Abende sind etwas für andere Leute, Leute wie Kate und Noah, die mit ihren Elite-Uni-Abschlüssen und ihren Halt gebenden Familien wie geschaffen dafür sind, Glück zu wünschen und Trinksprüche auszubringen. Beim Nachtisch nehme ich nicht den Portwein, den Letty von Stephen öffnen lässt, sondern stehe auf und mache mir noch einen Wodka. Als Stephen das sieht, fällt ihm ein, dass er mir den gewünschten nicht gebracht hat, und von da an schenkt er mir immer ganz schnell nach.
     
    Im Taxi nach Hause halten Noah und ich uns bei der Hand. Ich habe sieben oder acht Wodka getrunken, mindestens ebenso viel Gläser Wein, und bin trotzdem noch nicht da, wo ich gern wäre. Ich denke daran, was in den kommenden Wochen noch alles zu tun ist, um die Agentur in Gang zu bringen, und an die beiden noch anstehenden Eröffnungspartys. Zuerst eine Cocktailparty in der neuen Wohnung einer Freundin von Kate, dann ein Dinner für rund fünfzig Klienten und Kollegen aus der Verlagswelt, zu dem mein Freund David lädt, einer der ersten Autoren, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ich befürchte, bei beiden Anlässen eine Rede halten zu müssen – wenigstens ein Dankeswort an die Gastgeber richten zu müssen –, und überlege, wie ich mich davor drücken kann. Ich schließe die Augen und versuche auszublenden, wie sehr mir danach ist, Rico anzurufen und ein paar Steine zu rauchen. Nach vier oder fünf Drinks stellt sich dieser Gedanke meistens bei mir ein und bleibt, bis ich entweder Rico oder sonst einen Dealer anrufe oder einschlafe.
    Es ist kurz vor Mitternacht, und mir gehen zig Möglichkeiten durch den Kopf, wie ich von Noah wegkommen und mir was besorgen kann. Manuskript im Büro vergessen? Geld aus dem Automaten? Nichts erscheint mir plausibel. Auf der Brooklyn Bridge Richtung Manhattan umfasst Noah meine Hände und sagt mir, wie stolz er ist – auf mich, auf die Agentur. Während er spricht, streift die Brückenbeleuchtung seinen struppigen Bart, die freundlichen Augen, die langen Koteletten und das kurz geschnittene, zurückgehende Haar. Ich drücke mich an ihn, schiebe die anderen Gedanken weg. Er riecht wie immer – nach Speed Stick Deo und frischer Wäsche. Ich entspanne mich etwas und denke erst einmal, dass alles halb so schlimm ist, dass sich alles finden wird.
     
    Als ich an diesem Abend ins Bett gehe, muss ich an Stephen denken, den Typ bei Letty, der Speisen auf der Warmhalteplatte vergessen, ein Glas Wein verschüttet und mir den ganzen Abend schöne Augen gemacht hat. Ich frage mich, wie Letty an ihn geraten ist, und denke daran, dass er sich zu lange am Tisch aufgehalten und zu viele Fragen gestellt hat und sich seiner Fehler anscheinend gar nicht bewusst war. Aber er hat einfließen lassen, dass er in Princeton war und, als er mitbekam, dass Noah Filmemacher ist, sämtliche ihm bekannten Berühmtheiten aufgezählt – Dramatiker, Aktivisten und Schauspieler. Ich muss auch daran denken, wie er seine Telefonnummer auf die Rückseite einer Serviette geschrieben und sie mir in die Hand gedrückt hat, als ich mir in der Küche ein Glas Wasser holte; wie er meine Hand eine Spur zu lange gehalten und mir gesagt hat, dass er auf vielen Verlagsfesten die Bar macht und dass ich ihn doch mal anrufen soll. Und obwohl er den ganzen Abend zu nichts zu gebrauchen war, weiß ich beim Einschlafen, dass ich das tun werde.
     
    Über ein Jahr später, als Stephen Gläser und Eis auf einen kleinen Tisch in unserem Fernsehzimmer stellt – wie er es inzwischen mindestens ein halbes Dutzend mal getan hat –, bemerke ich außen an seinem Daumen eine lange Brandnarbe. Ich frage ihn, wie er dazu gekommen ist, und er unterbricht sich, sieht mich an, als hätte er schon lange darauf gewartet, dass ich die Frage stelle, und sagt:
Frag lieber nicht.
Aber ich kenne die Antwort. Süchtige haben Antennen, die für die entsprechende Frequenz bei anderen empfänglich sind, und jetzt bin ich gerade auf Stephens Wellenlänge. Wahrscheinlich spreche ich schon darauf an, seit wir uns kennen. Doch erst jetzt, als mir sofort klar ist, wie er sich verbrannt hat, begreife ich voll und ganz, warum ich ihn engagiert habe, wieso er uns wieder bei einer Party helfen kann, obwohl er
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