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Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Porträt eines Süchtigen als junger Mann

Titel: Porträt eines Süchtigen als junger Mann
Autoren: Bill Clegg
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Ahornblatt vorne. Auf meinem Konto ist noch Geld. Knapp vierzigtausend. Ich frage mich, wie ich es bis hierher geschafft habe, durch welches unerwünschte Wunder mein Herz nicht stehengeblieben ist.
     
    Mark ruft aus der Küche, aber ich verstehe nicht, was er sagt.
     
    Mein Handy klingelt, doch es liegt nebenan unter einem Stoß Decken und Laken, so dass ich es nicht höre. Als ich es später finde, ist die Mailbox voll beunruhigter Nachrichten von Freunden, meiner Familie und Noah. Ich höre in eine rein und lösche sie alle miteinander.
     
    Ich höre auch nichts Besonderes bei dem neuen Schloss an der Tür der Wohnung, die Noah und ich acht Jahre lang geteilt haben – dass es nicht mehr laut knackt, sondern leise klickt, als er zum ersten Mal mit dem neuen Schlüssel die Tür öffnet. Von all dem höre ich nichts. Ich merke nichts von dem, was passiert ist oder noch passieren wird, während das Konstrukt, das mein Leben war, aus den Fugen geht – Schloss für Schloss, Klient für Klient, Dollar für Dollar, Vertrauen für Vertrauen.

     
    Das Einzige, was ich höre, während Mark wütend das Glas auffegt, und das Einzige, was ich spüre, während die Stadt draußen raschelnd erwacht, sind die barschen Forderungen, die von den Marionettenschnüren ausgehen. Den endlosen Morgen, die zähen Nachmittagsstunden hindurch und darüber hinaus werden sie lauter, nachdrücklicher, wird ihr Zug fester, ruppiger, entreißen sie mir die Bankkarte, ziehen mir die Dollars aus den Taschen, das Kleingeld aus der Jacke, das letzte bisschen Farbe aus den Augen, das Leben aus dem Körper.

Bravo
    Es ist Januar 2001, und Noahs Cousine Letty gibt zur Feier der Eröffnung der kleinen Literaturagentur, die meine Freundin Kate und ich gegründet haben, ein kleines Abendessen in ihrem Brownstone in Brooklyn Heights. Letty ist eine wohlerzogene Dame aus Memphis, eine Wellesley-Absolventin und Witwe, der man die über sechzig in keiner Weise ansieht oder anmerkt, und hat etwas von der immerfreundlichen, gutherzigen Beflissenheit einer Verliererin. Im Gegensatz zu ihrer supereleganten Schwester, der Frau eines Ex-Botschafters, scheint Letty mit ihrer privilegierten Herkunft stets ein wenig auf Kriegsfuß zu stehen. Sie hat nie im Leben arbeiten müssen, redet aber oft von ihren Jobs in den Graphikabteilungen verschiedener Buchverlage und ihrer langjährigen Arbeit für Stiftungen. Sie hat zwei Töchter, Ruth und Hannah, und haufenweise Jugendfreundinnen mit Namen wie Sissy und Babs, zu deren Geburtstagen oder Jubiläen sie oft heim nach Memphis fliegt.
     
    Es ist Ende Januar, eine Woche vor der offiziellen Eröffnung der Agentur. Wir haben weder Telefon noch Briefpapier noch Bankkonten. Mir macht Angst, dass wir noch einen Assistenten und einen Buchhalter einstellen müssen, vor allem aber, dass wir für beide kein Geld haben. Noah und ich kommen zehn Minuten zu spät bei Letty an, Kate und ihr Mann sind schon da. Letty hat jemanden besorgt, der die Mäntel entgegennimmt, Getränke ausschenkt, Häppchen reicht und sich um die Tafel kümmert. Er ist Mitte bis Ende dreißig, Asiat, attraktiv, eindeutig schwul und ein bisschen zu freundlich. Stephen heißt er, und sein auffälliges Benehmen macht mich verlegen gegenüber Kate und ihrem Mann, die uns als Paar nicht sonderlich vertraut sind und mir zusammen jetzt doch sehr bürgerlich vorkommen.
     
    Stephen fragt Noah und mich, was wir trinken möchten, und verschwindet in der Küche. Er bringt uns zwei Gläser Weißwein, obwohl ich um einen Wodka gebeten habe und Noah um einen Scotch. Er ist ganz aus der Fassung, entschuldigt sich und geht zurück in die Küche, kommt aber nicht wieder. Nach rund fünf Minuten steht Letty auf und sieht nach, wo er bleibt. Wenig später kommt er mit den Drinks. Letty ist sichtlich peinlich berührt.
     
    Es ist ein dekadenter Abend. Kaviar, Shrimps und Käse als Vorspeise, dann Lammbraten. Ich nehme von allem zu viel und bin lange vor dem Nachtisch satt. Noah wie auch Letty bringen Toasts auf uns aus – beide haben dabei Tränen in den Augen. Ich winde mich unbehaglich im Glanz ihrer Wertschätzung und schäme mich nicht zum ersten Mal dafür, dass ich einer Cousine von Noah so nahe stehe und meine eigenen Verwandten kaum kenne. Dass Noah und ich auf Hochzeiten und Geburtstage seiner Cousinen, Geschwister und Nichten gehen, ich meine Familie aber nur einmal im Jahr besuche – meistens an Weihnachten –, und auch dann nur für einen Tag und eine
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