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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Autoren: Adam Soboczynski
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Landstriche, während Polen den Kapitalismus neu erfindet.
    In Deutschland sucht man überreizt nach einem neuen Bürgertum. Mit der Lupe. In Polen hat ausgerechnet der Sozialismus Familienwerte,
     den Handkuß, eine starre Rollenverteilung der Geschlechter konserviert. Als Gegenreaktion zur offiziellen Staatsdoktrin.
    In Berlin sind die Mieten sehr niedrig, in Warschau und Krakau sehr hoch. Deshalb wird in Krakau schneller studiert, früher
     ein Beruf gewählt, früher geheiratet. Deshalb trifft man sich in Warschau für eine Viertelstunde im Café, in Berlin für einen
     ganzen Sonntagnachmittag. In Polen müssen schneller Entscheidungen gefällt werden. Sehr früh und für ein ganzes Leben. In
     Deutschland hat man Zeit, Entscheidungen hin und her zu wenden. Bis man nicht mehr weiterweiß. Da man in Polen weniger Zeit
     hat, wird auch heftiger gefeiert: Man nutzt das kleine Zeitfenster, das sich dem Rausch eröffnet.
    Die Zeit, die man in Deutschland hat, führt zu einer besonderen Form des Humors: der Ironie. Ironie ist, wenn man das Gegenteil
     von dem meint, was man sagt. |196| Man distanziert sich von einem Standpunkt, bleibt ihm aber doch verbunden. Durch einen gegenteiligen Standpunkt. Ironie erzeugt
     keinen Fortschritt. Sie dreht sich im Kreis. Ironie hat Zeit. Und sie ist spöttisch: »Du bist mir ein schöner Freund!«
    In Polen ist man nicht ironisch, man ist absurd. Die Pointe ist häufig die, daß es gar keine gibt. Man ist sich der gebrechlichen
     Einrichtung der Welt bewußt. Deshalb ist das Absurde in Polen versöhnlich. Aber auch traurig. Deshalb sind die Polen gerne
     melancholisch. Doch Melancholie ist nur eine ins Traurige gewendete Form von Zufriedenheit. Polen ist somit modern, Deutschland
     postmodern, es wittert in allem ein bereits vergangenes Zitat, es ist pathosarm, es panzert sich ein in Coolness.
    Beide Länder haben einen Komplex. Die Polen haben einen Minderwertigkeitskomplex, da Rußland und Deutschland ihnen mächtiger,
     finanzstärker und größer erscheinen. Deutschland hat einen moralischen Komplex gegenüber Frankreich und Polen, der unheilvollen
     Geschichte wegen. Deshalb wird hier so gesund gegessen, deshalb gibt es so viele Lehrer, deshalb wird Müll getrennt und werden
     lebhaft Geschlechterkonflikte ausgetragen. Deshalb kreist immer alles um Moral. Deshalb sind viele Deutsche so europafreundlich,
     suchen eine europäische Identität. Um ihre deutsche loszuwerden. Die Polen hingegen sind häufig europaskeptisch, da sie ihre
     nationale Identität bedroht sehen. |197| Polen ist katholisch, Deutschland ist in seinem Kern protestantisch: Seine Bewohner sind inszenierungsfaul und mit einem lebhaften
     Gewissen ausgestattet. Deshalb wird schnell angemahnt, daß so eine länderspezifische Gegenüberstellung undifferenziert, vor
     allem aber unmoralisch ist. Aber ich habe eine lange Reise hinter mir. Und mein Journalistenfreund hat Bier kaltgestellt.
    Er sieht müde aus heute abend, da er bei einer Tageszeitung arbeitet und sehr spät noch, kurz vor Redaktionsschluß, irgendwelche
     Meldungen über integrationsunwillige Türken in Berlin-Neukölln ins Blatt bringen mußte. Irgend jemand hat im Frühjahr 2006
     entdeckt, daß in Deutschland seit Jahrzehnten schon Ausländer leben und daß diese Ausländer Deutschland nun Probleme bereiten.
     Jedenfalls ist die Grundstimmung, als wir uns treffen, ein bißchen hysterisch. In einer Schule kapitulierten die Lehrer angesichts
     gewaltbereiter Jugendlicher in ihren Klassenräumen. Kurz darauf sitzen in dieser Schule, als dies öffentlich wird, mehr Journalisten
     auf der Schulbank als Schüler. Die Journalisten warten vergeblich auf eine Messerstecherei. Die Schüler denken im Traum nicht
     daran. Wie gesagt, die Stimmung ist, als wir uns treffen, ein bißchen hysterisch im Land.
    Wir sprechen darüber, daß die Polen sich in Deutschland als Putzfrauen und als Künstler eigentlich ganz gut eingerichtet hätten.
     Deshalb würden sie auch kaum |198| wahrgenommen. Man muß Probleme machen, um wahrgenommen zu werden. Wir nicken uns an. Es ist schön, einer Meinung zu sein.
     Und ich freue mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, und er bringt zur Feier des Tages Salzstangen, die er in ein Glas
     füllt und auf den Tisch stellt. Ich überlege kurz, ob, angesichts des lausigen Mahls, jetzt wohl ein langer Monolog über die
     Gastfreundschaft diesseits und jenseits der Oder angemessen sei. Aber ich bekämpfe den Hunger, der sich nach
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