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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition)
Autoren: Stefan Slupetzky
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der Veranstaltung unterlief Oppitz vor laufenden Kameras ein schlüpfriger Fauxpas, der mittlerweile auch im Internet kursiert: Auf der beliebten Plattform YouTube wurde das Video mit dem Titel ‹Höschenfürst› innerhalb weniger Stunden zigtausendfach aufgerufen.
    Höschenfürst , gibt Polivka in die Suchmaschine ein, nachdem er Hammels Laptop hochgefahren hat. Mit einem Mausklick öffnet sich ein weiteres Fenster, und das breite, schwitzende Gesicht Fürst Omars grinst aus dem Geviert des Bildschirms.
    Hinter einem Wall aus Mikrophonen steht der Fürst an einem Rednerpult, das liebevoll mit einer rot-weiß-roten Stoffbahn und dem stilisierten Doppeladler dekoriert ist. Auf dem Pult ein Wasserglas und ein gut zwanzig Zentimeter hohes weißes Porzellanpferd, das geschickt auf seinen Hinterbeinen tänzelt.
    «Sehr verehrte Damen, sehr verehrte Herren», hebt Oppitz jetzt zu reden an, «es ist mir eine ganz besondere Ehre, mich heut Abend in den Dienst einer der vornehmsten und edelsten Institutionen Österreichs zu stellen. Die fürchterliche Seuche, die vor dreißig Jahren das einstmals kaiserliche Hofgestüt in Piber heimsuchte, hat uns gelehrt, was wir an unseren geliebten Lipizzanern haben …»
    Ein Schnitt: Das Bild wird schwarz und klinkt sich erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder ein. Inzwischen ist der Fürst beim obligatorischen heiteren Teil seiner Rede angelangt. Ein amüsierter Blick in die erlauchte Runde, dann der schmunzelnd deklamierte Satz: «Ein guter Reiter weiß genau: Zuerst das Pferd und dann die Frau!» Verhaltenes Gekicher ob der wohlgereimten Perle aus dem fürstlichen Zitatenschatz: Ein zweideutiger Scherz zur rechten Zeit ist bei der Hautevolee noch immer angekommen – Hauptsache, dezent. Fürst Oppitz rückt sein Brillengestell zurecht und greift nun automatisch in die Innentasche seiner Jacke, um etwas herauszuziehen. Er fördert ein Stück Stoff zutage, das sich, während er sich damit seine schweißglänzende Stirn betupft, vor den bestürzten Augen seines Auditoriums zu voller Pracht entfaltet. Die Bestürzung ist zwar nicht zu sehen, man kann sie aber aus den Lautsprechern von Hammels Notebook hören: allgemeines Luftanhalten, dann ein halb empörtes, halb entgeistertes Gemurmel und der eine oder andere spitze Aufschrei. Oppitz steht inzwischen da und weiß nicht, was die Reaktion des Publikums hervorgerufen hat; nach endlosen Sekunden erst bemerkt er den lavendelfarbenen Damenslip in seiner Hand.
    Ein weiterer Bildschnitt: die Ministerin, die – leichenblass – zwischen dem Vizekanzler und dem Bundespräsidenten an einem der opulent gedeckten Tische sitzt. Die Blicke aller anderen Gäste ruhen auf ihr. Sie tastet nach der Tischkante, steht schwankend (und den Arm des Bundespräsidenten ignorierend) auf und lässt sich von zwei jungen Männern aus dem Saal begleiten.
    Siebenhundertneunundfünfzigtausend Mal ist Höschenfürst in den vergangenen fünf Tagen angesehen worden – siebenhundertsechzigtausend Mal sind es, als Polivka den Laptop zuklappt. Sein Gesicht ist rot und tränenüberströmt. Er hat noch selten so gelacht.

    Der Abend senkt sich über Wien, und Polivka starrt grimmig auf den schwarzen Fernsehapparat. Dazu, ihn einzuschalten, fehlt ihm schlicht die Lust. Das Lachen ist ihm im Verlauf des Nachmittags vergangen, ohne dass es dafür einen äußeren Grund gegeben hätte. Nach den ersten Schritten in Begleitung einer resoluten Physiotherapeutin, einem ersten autonomen Gang auf die Toilette, einer ersten Dusche, einer ersten Schüssel Vollkornbrei und einer ersten ungesüßten Tasse Kräutertee droht nun der Tag in jenem trüben Dämmerlicht zu enden, das er schon in seiner Kindheit so verabscheut hat. Zu keinen anderen Zeiten ist die Schwermut so bedrückend über Polivka hereingebrochen wie nach langen Sommertagen, wenn die Sonne untergeht und man die ersten Lampen aufdrehen muss. Kein kalter Winter, keine schwarze Nacht ist so durchtränkt von ungelebten Chancen, ungestilltem Hunger, unerfüllter Hoffnung, von einem gnadenlosen Absterben des Glücks, das einem in den Morgenstunden noch gewunken hat.
    Sophie. Sie hat sich nicht gemeldet.
    Draußen zwitschert eine Amsel. Drinnen macht sich eine Krankenschwester an den Jalousien zu schaffen, zieht sie rasselnd zu und wuchtet dann ihr weiß bekitteltes Gestell zum Zeitungstischchen, das ihr offenbar ein Dorn im Auge ist. «Wir haben Sanatorium», zetert sie durchs Halbdunkel zu Polivka, «kein Dokumentensammlung.
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