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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition)
Autoren: Stefan Slupetzky
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Lächeln wird jetzt immer breiter. «Sehen Sie, Herr Bezirksinspektor, es war alles nicht so einfach: Kaum dass meine internistische Kollegenschaft mit Ihnen klargekommen ist, haben Sie begonnen, den Anästhesisten Rätsel aufzugeben. Sie wollten ganz einfach nicht aufwachen …»
    «Ich war im Koma?»
    «Ja, das kann man so bezeichnen. Allerdings hat Ihr vegetatives Nervensystem nach dem Narkoseschlaf gut funktioniert; Sie mussten also nicht beatmet werden. Trotzdem waren Sie nicht dazu bereit, die Augen aufzumachen.»
    Polivka versucht, sich zu erinnern. Nicht nur an das Vorher und das Nachher, sondern auch an das Dazwischen. Es gelingt ihm nicht; die Müdigkeit steckt viel zu tief in seinem Kopf, in seinen Gliedern. Immer wieder dämmert er sekundenweise weg, und immer wieder sitzt bei seiner Rückkehr Doktor Singh an seinem Bett.
    «Wo ist …» Sophie ?, denkt Polivka den Satz zu Ende, ehe er neuerlich eindöst. Als er wieder zu sich kommt, setzt Singh seine Berichterstattung fort.
    «Der Auslöser der ganzen Sache war ein Ulcus, also ein Geschwür in Ihrer Magenschleimhaut. Grundsätzlich nichts Schlimmes, wenn es rechtzeitig behandelt wird, und außerdem bei uns im Westen zusehends verbreitet. Sie sind wahrlich nicht der Einzige mit einem schläfrigen Verdauungsfeuer, und je schlechter es im Ofen brennt, desto heftiger qualmt der Kamin. Die westliche Schulmedizin kennt vorwiegend drei Schuldige an dieser Krankheit: erstens ein Bakterium, das aber interessanterweise auch mehr als die Hälfte der gesunden Menschen in sich trägt, und dann natürlich die zwei Hauptgeißeln der Menschheit: Nikotin und Alkohol.»
    «Und Ihre Meinung?», murmelt Polivka.
    Der Doktor seufzt. «Ganz unter uns», erwidert er dann mit gesenkter Stimme, «was am Anfang aller Dinge steht, ist meistens ungreifbar. In Ihrem Fall nennt man es Stress: ein Cocktail aus Verdruss und Sorgen, Überforderung und dem Gefühl der Ohnmacht. Einige Schreihälse unter den hiesigen Ärzten, die wohl lieber als Politiker Karriere machen würden, kehren – ganz im Sinne eines ethischen, erkenntnistheoretischen und ökonomischen Materialismus – Ursache und Wirkung um. In Indien dagegen pflegen wir zu sagen: Wer dem Affen eine Juckbohne in seinen Anus steckt, der sollte nicht dem Tier die Schuld daran geben, dass es sich den Hintern blutig kratzt. Ein bisschen wortgewandter hat es Heimito von Doderer ausgedrückt: Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die – von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaftlern herbeigeführte – derzeitige Beschaffenheit unserer Welt mit schwerstem Alkoholismus zu reagieren. Wer nicht säuft, setzt heutzutage schon eine beachtliche und freiwillige Mehr-Leistung. »
    Polivka lacht auf – und hält erschrocken inne, um in sich hineinzuhorchen.
    «Was ist los?», fragt Singh. «Haben Sie Schmerzen?»
    «Eben nicht … Es tut nichts weh.»
    «Das wäre auch bedenklich. Sie sind völlig runderneuert, Herr Bezirksinspektor. Inklusive eines neuen Schneidezahns, der Ihnen vor zwei Wochen implantiert wurde.»
    «Vor zwei …? Jetzt sagen S’ mir um Himmels willen, wie lange ich schon da herumlieg!»
    «Insgesamt fünfeinhalb Wochen.»
    «Dann … ist heute …»
    «Freitag, der achtzehnte Juli. Aber, und da kann ich Sie beruhigen, immer noch 2012.»
    «Das ist doch Wahnsinn!» Polivka drückt seine Ellenbogen in die Matratze und versucht, sich aufzusetzen.
    «Nur die Ruhe, Herr Bezirksinspektor, fangen Sie nicht gleich wieder damit an, aus dem Kamin zu rauchen. Schauen Sie …» Singh zeigt auf ein Tischchen, das in Reichweite des Bettes steht. Drei hohe Zeitungsstapel türmen sich darauf, gut vierzig Ausgaben der Reinen Wahrheit . «Sie haben nichts versäumt, und was Sie doch versäumt zu haben glauben, können Sie gemütlich nachlesen. Wir haben Ihnen jeden Tag die Zeitung mitgebracht.»
    «Und wer ist wir ?»
    «Die Herren Kollegen aus dem Kommissariat und meine Wenigkeit. Sie werden vermisst, mein Freund.»
    «Und was ist mit …» Sophie? , will Polivka abermals fragen. Doch bevor er fertig sprechen kann, tritt ein voluminöser Mann in weißem Ärztemantel durch die Tür, gefolgt von einer Gruppe junger, wissbegieriger Trabanten. Während sich der Medizinmann vor dem Bett postiert und Polivka mit interessierten Blicken mustert, scharen sich seine Schüler in geziemender Entfernung um ihn und markieren so die Grenzen seiner chefärztlichen Aura.
    «Habe es gerade erst erfahren, Herr Kollege», sagt der
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