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Polarsturm

Polarsturm

Titel: Polarsturm
Autoren: Clive Cussler , Dirk Cussler
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des nordamerikanischen Kontinents. Crozier ahnte das wahrscheinlich, und ihm war auch noch etwas anderes klar. Von seinem Standort an der Nordwestspitze von King-William-Land aus erkannte er, dass er fast tausend Meilen vom nächsten Vorposten der Zivilisation entfernt war. Eine karge Handelsniederlassung der Hudson Bay Company, weit im Süden, am Ufer des Great Fish River gelegen, bot am ehesten Aussicht auf Rettung. Aber da zwischen der Südspitze von King-William-Land und der gut hundertfünfzig Meilen entfernten Mündung dieses Flusses offenes Meer lag, mussten sie ihre verfluchten Boote mit sich über das Eis schleppen.
    Crozier ließ die Besatzung ein paar Tage im Vorratslager ausruhen und mit vollen Rationen verpflegen, damit die Männer vor dem mühseligen Marsch, der ihnen bevorstand, wieder zu Kräften kamen. Dann konnten sie nicht mehr länger warten. Wenn sie die Siedlung der Hudson Bay Company erreichen wollten, bevor im Herbst wieder die Schneefälle einsetzten, kam es auf jeden Tag an. Der erfahrene Kapitän gab sich keinen Illusionen hin, dass die gesamte Mannschaft die weite Strecke auch nur annähernd bewältigen würde. Aber mit etwas Glück kamen vielleicht die kräftigsten Männer noch rechtzeitig dort an, sodass sie einen Rettungstrupp zu den anderen schicken konnten. Es war ihre einzige Chance.
    Wieder schleppten sie die Boote Meter um Meter voran, fanden aber das Eis an der Küste weitaus weniger imposant. Doch rasch wurde ihnen die bittere Wahrheit klar: Sie befanden sich auf einem Todesmarsch. Die Mühsal und die Strapazen bei beißender Kälte waren mehr, als die unterernährten Männer ertragen konnten. Die schlimmsten Qualen, schlimmer noch als die Erfrierungen, bereitete ihnen der schier unstillbare Durst. Da sie für ihre tragbaren Gasöfen keinen Brennstoff mehr hatten, konnten sie aus dem Eis auch kein Trinkwasser gewinnen. Verzweifelt stopften sich die Männer Schnee in den Mund, um wenigstens ein paar Tropfen Schmelzwasser trinken zu können, und zitterten dann vor Kälte. Wie bei einer Karawane, die sich durch die Sahara schleppt, kämpften sie fortwährend gegen die drohende Dehydratation und andere Leiden. Tag für Tag machte ein Mann nach dem anderen schlapp und starb, während der Trupp weiter gen Süden marschierte. Anfangs hoben sie flache Gräber aus, doch dann ließen sie die Toten einfach auf dem Eis liegen und schonten ihre Kräfte für den weiten Weg, der noch vor ihnen lag.
    Als Fitzjames auf eine niedrige, mit Schnee bedeckte Anhöhe kletterte, hob er die Hand und blieb stehen. Torkelnd machten zwei achtköpfige Schlittentrupps hinter ihm halt und ließen ihre Zuggeschirre los, die an einer hölzernen Pinasse befestigt waren. Das schwere, mit Nahrungsmitteln und Ausrüstung beladene Boot wog fast eine Tonne, und es voranzubewegen war so anstrengend, als schleppe man ein Nashorn über das Eis. Sämtliche Männer sanken in die Knie, ruhten sich aus und sogen die eisige Luft in tiefen Atemzügen in ihre wunden Lungen.
    Unter dem klaren Himmel war die Landschaft in strahlenden Sonnenschein getaucht, der sich auf dem Schnee gleißend widerspiegelte. Fitzjames nahm seine aus Maschendraht gebastelte Schneebrille ab und ging von einem Mann zum anderen, sprach ihnen Mut zu und untersuchte ihre Gliedmaßen auf Erfrierungen hin. Er war mit dem zweiten Trupp fast fertig, als ihm einer der Männer laut zurief.
    »Sir, da ist die
Erebus
! Sie ist vom Packeis freigekommen.«
    Fitzjames drehte sich um und sah, dass einer der Seemänner zum Horizont deutete. Der Mann, ein Signalmaat, streifte das Zuggeschirr ab, dann rannte er zur Küste und auf das Packeis.
    »Strickland! Bleiben Sie stehen!«, befahl Fitzjames.
    Doch der Befehl stieß auf taube Ohren. Ohne auch nur einen Schritt langsamer zu werden, stolperte und torkelte der Seemann über des unebene Eis auf einen dunklen Fleck am Horizont zu. Fitzjames richtete den Blick in die gleiche Richtung und riss ungläubig den Mund auf. Rund zehn Meilen entfernt waren der schwarze Rumpf und die aufgerichteten Masten eines großen Segelschiffs deutlich zu erkennen. Es konnte nur die
Erebus
sein.
    Fitzjames starrte ein paar Sekunden lang darauf und wagte kaum zu atmen. Strickland hatte Recht. Das Schiff bewegte sich und trieb offenbar aus dem Packeis.
    Der verwunderte Kommandant ging zu der Pinasse und kramte unter einer Sitzbank herum, bis er ein Teleskop fand. Er richtete das Glas aus und erkannte sofort, dass es sich um das Schiff
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