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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star
Autoren: Martin Cruz Smith
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Sina und ich. Auf den Klippen, mit Blick aufs Meer. Da steht dieser Leuchtturm am Kap, sieht aus wie ein graues Schloß, das ins Meer versinkt, mit einer rot-weißen Kerze obendrauf. Renko, es ist phantastisch, sag ich Ihnen! Die Wellen brechen sich am Fuß der Klippen. Robben strecken den Kopf aus dem Wasser. Die Föhren oben auf den Klippen sind vom Wind gebeugt. Ich wünschte, ich hätte an dem Tag einen Fotoapparat dabeigehabt.«
    Die Zigarette zwischen den Lippen, schälte Karp sich aus dem zweiten Pullover. Man hätte allerdings glauben können, er sei immer noch voll bekleidet, denn die Tätowierungen bedeckten seinen Rumpf und die Arme bis zum Hals und zu den Handgelenken.
    »Sie kommen also nicht mit?« fragte Arkadi.
    »Oder man kann in die Wälder gehen. Es ist zwar nicht die Taiga, nicht das, was die Leute sich vorstellen. Es ist ein Mischwald, Tannen und Ahorn auf den Hügeln, beschauliche Flüsse mit Wasserlilien drauf. Man wünscht sich, in den Wäldern zu übernachten, wo man möglicherweise einen Tiger hört. Zu sehen kriegt man zwar nie einen, außerdem stehen sie sowieso unter Naturschutz. Aber einen Tiger in der Nacht brüllen zu hören, das ist ein Erlebnis, das man nie vergißt.«
    Karp hatte unterdessen auch Stiefel und Hose abgelegt und stand nun nackt da. Er klemmte den Stummel seiner Zigarette in den Mund, rauchte die pure Glut. Da seine Haut sich vor Kälte rötete, traten die Tätowierungen plastischer hervor.
    »Tun Sie das nicht«, sagte Arkadi.
    »Keiner kann mir nachsagen, daß ich Sina je weh getan hätte, nur das ist für mich wichtig. Nicht mal geschlagen habe ich sie. Wenn man jemanden liebt, dann verletzt man ihn nicht, und man läuft auch nicht davon. Sie wäre sowieso nicht geblieben.«
    Orientalische Drachen klommen an Karps Armen empor, grüne Klauen spreizten sich auf seinen Füßen, tintenblaue Meerweiber wanden sich um seine mächtigen Schenkel, und bei jedem dampfenden Atemzug, den er tat, hackte der Geier nach seinem Herzen. Noch greller traten die weißen Narben hervor, tote Streifen auf seiner Brust, wo man die Protestparolen weggebrannt hatte. Über seine niedrige Stirn spannte sich ein aschfahles Band. Seine übrige Haut rötete sich, die Muskeln bebten und zuckten im Kampf gegen die Kälte und hauchten jeder einzelnen Tätowierung gespenstisches Leben ein. Arkadi erinnerte sich, welche Qualen er, obschon voll bekleidet, im Laderaum der Polar Star ausgestanden hatte. Von Sekunde zu Sekunde kostete es Karp merklich größere Anstrengung und Konzentration, ein Wort herauszubringen, ja auch nur einen Gedanken zu fassen.
    »Karp, gehen Sie mit mir zurück«, drängte Arkadi.
    »Zurück, zu was? Wozu? Nein, nein, Sie haben gewonnen.«
    Inzwischen zitterte Karp so heftig, daß er sich kaum noch aufrecht halten konnte, aber er nahm einen letzten, brennenden Zug, bevor er die Kippe, die bloß noch ein Funke war, ins Wasser warf. Triumphierend breitete er die Arme aus. »>Mit meinem Wolfsgrinsen lächle ich ihm zu, dem Feind, blecke die fauligen Stumpen meiner Zähne. Wir sind keine Wölfe mehr.<« Er lachte Arkadi ins Gesicht, holte tief Atem und tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser.
    Arkadi sah, wie Karp mit kraftvollen Stößen in die Tiefe schwamm, während klebrige Luftblasen hinter ihm aufstiegen. Die Tätowierungen wirkten jetzt sehr passend; im dämmrigen Wasser unter dem Eis erschienen sie eher wie Fischschuppen denn Menschenhaut. In etwa vier Meter Tiefe schien Karp sekundenlang zu verharren, bis er eine Lunge voll Luft ausstieß und dann in die nächste, tiefere Wasserschicht hinabsank. Die Strömung erfaßte ihn, und er begann zu treiben.
    Karps Fußsohlen waren nicht tätowiert. Als der Körper des Trawlmasters seinen Blicken schon entschwunden war, sah Arkadi seine Füße immer noch vor sich, zwei bleiche Fische in schwarzem Wasser.
    Arkadi schaute hinunter auf die Radaranlage des Patrouillenbootes, die grauen Schildpattgeschütze, die Torpedorohre. Die ganze Nacht, so schien es ihm, waren die Matrosen vom Marinegeheimdienst auf der Polar Star herumgeklettert und hatten Gerätschaften in versiegelten Kisten weggeschleppt. Jetzt, kurz vor Anbruch der Dämmerung, war es Zeit für Anton Hess’ Abgang: Wie ein Schauspieler zwischen zwei Auftritten in unterschiedlichem Kostüm trug der Flotteningenieur noch immer seine Fischerjacke über Hosen mit militärisch korrekter Bügelfalte.
    »Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, mir Lebewohl zu sagen. Ich war immer
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