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Pilze für Madeleine

Pilze für Madeleine

Titel: Pilze für Madeleine
Autoren: Marie Hermanson
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giftig. Du kannst sterben«, sagte ich.
    »Darüber gibt es geteilte Meinungen. In manchen Kulturen wurde der Fliegenpilz verwendet, um Unsterblichkeit zu erlangen. Es heißt, er gibt dem Mann die Manneskraft zurück.«
    Vater ließ sich schwer auf den Stuhl fallen und trocknete sich den Mund mit dem Pulloverärmel ab.
    »Ich habe meine Macht über die Frauen verloren. Sie schauen mich nicht mehr an. Als könnten sie meine Unfähigkeit riechen.« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Im Zug habe ich eine Frau angesprochen. Sie schaute aus dem Fenster und antwortete nicht. Ich war nett und freundlich, nicht aufdringlich. Nach einer Weile stand sie auf und setzte sich woanders hin.«
    »Sie hatte vielleicht keine Lust zu reden«, sagte ich.
    Er lachte bitter.
    »Ha! Sie hatte sich kaum umgesetzt, da redete sie schon angeregt mit dem Mann, der neben ihr saß.«
    »Aha«, sagte ich. »Und deshalb willst du jetzt Fliegenpilz essen?«
    Vater saß schweigend und mit gesenktem Blick da.
    »Ich habe viel nachgedacht«, sagte er schließlich. »Ich habe gelesen, und ich habe nachgedacht. Die sibirischen Schamanen haben Fliegenpilz gegessen. Es gibt auch heute noch Fliegenpilzesser in Sibirien. Es ist eine uralte Tradition. Eine Art Religion. Vielleicht wurde früher einmal in allen nordischen Kulturen Fliegenpilz gegessen. Und wir haben es nur vergessen. Das Christentum hat alle Spuren unseres uralten Fliegenpilzkults ausgelöscht. Die Kenntnisse sind verlorengegangen.«
    Er nickte ernsthaft und hielt den Pilz zärtlich mit seinen kurzen Fingern fest. Ich hatte Vater noch nie so gesehen. War er religiös geworden?
    »Welche Kenntnisse?« fragte ich.
    »Die Kenntnisse über den Fliegenpilz. Die Kraft. Die andere Welt. Wir suchen, aber wir wissen nicht, was wir suchen. Die Frucht der Erkenntnis. Den Stein der Weisen. Die Quelle der Jugend. Den heiligen Gral. Vielleicht sind das nur andere Namen für diesen Pilz, der uns einmal mit dem Göttlichen verbunden hat.«
    Plötzlich kam Leben in ihn. Er stand auf, sprang mit dem Pilz in der Hand auf den Stuhl und setzte zu einem Vortrag über die Geschichte des Fliegenpilzessens an. Über die Berserker, die sibirischen Schamanen, die hinduistischen Veden. Er sprach, als hätte er viele Leute vor sich, er wandte sich mal nach rechts, mal nach links seinem nicht vorhandenen Publikum zu.
    »Vater«, flüsterte ich und faßte ihn leicht am Arm, aber er schüttelte mich ab und ließ sich nicht bremsen.
    Er streckte den Fliegenpilz von sich, wie die Freiheitsstatue ihre Fackel, und blickte über die eingebildete Zuhörerschaft.
    »Der Fliegenpilz. Amanita muscaria. Todesbringer oder Lebensgeber? Wir wissen es nicht. Wenige haben den Versuch gewagt. Und das Ergebnis ihrer mutigen Versuche ist der Wissenschaft nicht bekannt. Wir haben nur dunkle Geschichten, Mythen, Sagen. Aber wie will man es herausfinden, wenn man es nicht versucht? Chemische Analysen sagen nicht die ganze Wahrheit. Man muß es einfach ausprobieren. Sich aussetzen. Unsere Kenntnis über die Pilze beruht auf dem Willen mutiger Menschen, die sich der Gefahr aussetzen.«
    Er machte eine Pause und schloß die Augen, als würde er sich konzentrieren. Dann schaute er wieder den Pilz an und fuhr fort:
    »Ich werde nun diesen Pilz essen.«
    »Er ist doch roh«, protestierte ich.
    »Genau. Roh! « rief Vater, als würde er gerade dieses Wort genießen. »Ich möchte seine Kraft doch nicht wegkochen. Entweder er gibt mir das Leben oder den Tod. Wir werden sehen, was herauskommt. Ich übergebe mein Schicksal dem Pilz.«
    Er riß den Mund auf, beugte den Kopf nach hinten und führte langsam den Pilz zum Mund.
    »Jetzt reicht es, Vater. Hör jetzt auf mit diesen Albernheiten«, sagte ich und nahm ihm den Pilz aus der Hand.
    Obwohl er auf einem Stuhl stand und ich auf dem Boden, war das kein Problem, Vater war ja so klein. Er schaute mich verblüfft an, den Mund immer noch weit offen.
    »Komm vom Stuhl runter«, sagte ich scharf. »Und mach den Mund zu.«
    Ich hatte Proteste erwartet, aber Vater kletterte sofort herunter.
    Ich ging zur Spüle und warf den Pilz in den Mülleimer.
    Als ich mich umdrehte, saß Vater zusammengesunken auf dem Stuhl. Seine Schultern bebten, und ich hörte ein merkwürdiges Geräusch. Das war nicht möglich. Vater weinte! Ein kurzes, trockenes Schluchzen, wie eine Katze, die niest.
    Ich ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    Ich hatte das Gefühl, daß er genau das wollte. Daß ich ihm den Pilz
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