Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pilze für Madeleine

Pilze für Madeleine

Titel: Pilze für Madeleine
Autoren: Marie Hermanson
Vom Netzwerk:
Septembermorgen auf die Fähre fuhr. Ich war jetzt Gerds Junge, und ich hätte drei Meter Abstand zum Vordermann haben können, wenn ich gewollt hätte. Das Meer lag völlig glatt da und spiegelte Inseln und Schäre so genau, als wäre da noch eine zweite, identische Welt, und je länger man hinschaute, desto unsicherer wurde man, welche Welt die richtige war.
    Keine Vögel waren zu hören, alles war still. Die Zeit hielt den Atem an.
    Jetzt müßte Vater wieder aus Frankreich zurückgekommen sein und sich in der Kate eingerichtet haben.
    Was hatte er wohl gedacht, als er mich am Telefon nicht erreichen konnte? Als am Bahnhof kein Auto auf ihn wartete? Und wie würde er sich verhalten, wenn ich auftauchte und erzählte, daß ich den ganzen Sommer bei Mutter zugebracht hatte? Würde er einen seiner seltenen, aber schrecklichen Wutausbrüche bekommen? Oder würde er mich wie gewöhnlich in ironischen Bosheiten, Hohn und verbalen Kränkungen ertränken?
    Das spielte keine Rolle. Nichts dergleichen würde mich berühren. Er hatte mich der größten denkbaren Kränkung ausgesetzt, und ich hatte sie überlebt. Für mich war er immer noch mein Vater. Der Seemann spielte keine Rolle. Mein Plan, den ich im Frühjahr gefasst hatte, stand fest.
    Ich würde Vaters Hohn ertragen, ohne eine Miene zu verziehen. Ich würde höflich sein und mich nicht provozieren lassen. Ich würde im Morgengrauen aufstehen und zur Höhle gehen. Ich wäre mit dem Höhlenpilz zurück, bevor Vater aufgestanden war. Und wenn Vater dann den Proviant für unser Picknick im Rucksack verstaut hätte, würde ich in einem unbeobachteten Moment sein Eibrot wieder auspacken und es mit einem Klacks Höhlenpilz würzen.
    Ich fand ihn in der Küche. Er hatte seinen Stuhl in die Mitte des Raumes gezogen, durch den ein herbstlicher Sonnenstrahl einen langen, scharfen Schatten warf. Sein Gesicht war blasser, eingefallener, als ich es in Erinnerung hatte. Wir begrüßten uns, und ich erzählte ihm, daß ich bei Mutter war und ihn deshalb nicht hatte abholen können. Er nahm die Nachricht mit gleichgültiger Ruhe auf.
    »Bei Mutter? Aha.«
    Kein Wort über die hochnäsigen Meermenschen. Er fragte nicht, wie es mir da draußen gefallen hat oder wie es Mutter ging »Hat dich jemand mitgenommen?« fragte ich.
    »Ich bin zu Fuß gegangen.«
    »Den ganzen Weg? Das ist doch weit. Und die ganze Zeit bergauf.«
    »Ja.«
    Er seufzte ein wenig.
    »Aber du bist ja in guter Form, Vater«, sagte ich.
    Ich hatte erwartet, daß er die Schmeichelei auskosten und vielleicht noch ein bißchen dicker auftragen würde. Aber er schien kaum zugehört zu haben.
    »Was ist mit dir, Vater? Geht es dir nicht gut?« fragte ich.
    »Mir fehlt nichts«, sagte er. »Sonnst hätte ich wohl kaum vom Bahnhof bis hierher gehen können.«
    Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Sein Blick war starr, das Glitzern in den braunen Augen war verschwunden, und sein Kopf war zwischen die Schultern gesunken, seine Haare standen ab, als hätte er sie lange nicht gekämmt. Er glich einer alten zerzausten Eule, die sich auf einen Zweig gekauert hatte.
    »Wirst du wieder zu ihr zurückkehren?« fragte er.
    »Ja, es gefällt mir gut dort. Aber für die Pilzsaison bleibe ich hier«, sagte ich, um ihn etwas aufzuheitern.
    Und als er nicht antwortete, fuhr ich in keckem Ton fort:
    »Gibt es dieses Jahr viele Pilze? Warst du schon im Wald, um nachzuschauen?«
    Da stand Vater auf, holte einen Korb von der Spüle und hielt ihn mir hin. Da lagen drei Pilze. Rote Hüte mit weißen Punkten.
    »Hast du sonst nichts gefunden?«
    »Sonst hat mich nichts interessiert«, sagte Vater kurz.
    »Fliegenpilze? Warum denn das?«
    Mit langsamen Bewegungen nahm Vater einen Pilz aus dem Korb und hielt ihn vors Gesicht. Er sagte nichts, schaute nur den rotweißen Pilz an und drehte ihn vorsichtig zwischen den Fingern.
    »Was willst du mit dem Fliegenpilz machen?« fragte ich.
    Ohne den Blick vom Pilz zu wenden, sagte er:
    »Ich werde ihn essen. Zwei, drei Hüte werden ausreichen.«
    »Machst du dich über mich lustig?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich trinke zuerst Wasser. Das ist wichtig. Viel Wasser.«
    Er ging zur Spüle, beugte sich vor und trank dann durstig direkt aus dem Hahn.
    »Was ist das denn für ein Unsinn, Vater! Du wirst doch wohl keine Fliegenpilze essen?«
    Vater schlürfte und trank. Dann drehte er sich zu mir um, das Wasser tropfte ihm vom Schnurrbart, und er keuchte.
    »Und du willst Pilzexperte sein. Der ist doch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher