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Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Titel: Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)
Autoren: Robert Littell
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sozialistischen Sowjetrepubliken den Männern gleichgestellt waren und in wichtige Positionen aufrücken konnten. Je nach Tageszeit und abhängig davon, wie viel Licht durch das einzige Fenster fiel, sah sie entweder aus, als wäre sie Anfang vierzig oder Mitte fünfzig. Ihr Haar war zu einem festen Knoten gebunden, ihre schmalen Lippen (ohne jede Spur von Lippenstift) sahen aus, als hätten sie noch nie gelächelt. Ihre Augen lagen unter so schweren Lidern, dass ich ihre Farbe nicht erkennen konnte. Sie sagte, ich solle sie Arnold nennen.
    »Aber das ist ein Männername.«
    »Genau, und falls er Ihnen aus Versehen herausrutscht, werden alle denken, dass Ihr Führungsoffizier ein Mann ist.« Sie tauchte ihre Schreibfeder in ein kleines Tintenfass und sah mich erwartungsvoll an. Ich begann meinen Bericht auf Deutsch, aber sie bewegte den rechten Zeigefinger, wie es mein Großvater immer getan hatte, wenn er böse auf mich gewesen war. »Heute reden wir Englisch«, sagte Arnold, »damit mein Kollege unserer Unterhaltung folgen kann.«
    Auf der anderen Seite des Raumes machte ich einen großen, dünnen Genossen aus, der so tief in der verschatteten Ecke saß, dass ich seine Züge kaum erkennen konnte. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte und war ganz offenbar Kettenraucher, denn ich sah zum wiederholten Male, wie er sich eine Zigarette an der anderen ansteckte. Jedes Mal, wenn er einen Zug nahm, leuchtete die Asche in der Finsternis auf und produzierte gerade genug Licht, um einen dreieckigen Schnauzbart sichtbar werden zu lassen.
    »Wollen Sie uns nicht vorstellen?«, fragte ich Arnold.
    »Er weiß, wer Sie sind, und es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie wissen, wer er ist.«
    Ich lachte nervös und murmelte, dass das nicht unbedingt höflich sei.
    »Höflichkeit ist etwas für Industriekapitäne, die Ausbeuter der proletarischen Klassen. Kommen wir zur Sache. Zu Ihrem Bericht.«
    Ich erzählte von meinen letzten Aktivitäten. Ich hatte Waffen in Arbeiterwohnblöcke und Pulver in Munitionswerkstätten geschmuggelt.
    »Wenn ein Bürgerkrieg ausbricht und die Wohnblöcke angegriffen werden«, fragte mein Führungsoffizier »wie lange haben die Arbeiter dann, Ihrer Meinung nach, der Heimwehr von Dollfuß etwas entgegenzusetzen?«
    »Die Milizen haben nur wenige Gewehre und Pistolen, vielleicht kommt auf je zwanzig Mann eine Waffe. Sie haben kaum Munition, nicht mehr als vier, fünf Schuss pro Waffe. In einem offenen Kampf mit der Heimwehr sind sie eindeutig im Nachteil.«
    »Beschreiben Sie die Stimmung in den großen Wohnblöcken.«
    »Die Stimmung ist revolutionär. Der geringste Anlass könnte zum zündenden Funken des Aufstands werden. Seit Dollfuß das Parlament ausgeschaltet hat, regiert er wie ein Diktator mit Notverordnungen. Die Kommunistische Partei ist bereits verboten. Wenn er jetzt auch noch die Sozialdemokraten verbietet, die nach wie vor den Wiener Stadtrat stellen, bringt er das Fass zum Überlaufen. Dann wird es einen Sturm der Entrüstung geben. Ob dieser Protest in Gewalt umschlägt, wird meiner Meinung nach davon abhängen, wie Dollfuß und sein Milizenpöbel reagieren.«
    »Ich habe gehört, dass Sie Ihr Gästezimmer an einen Engländer vermietet haben.«
    Ich fingerte eine Zigarette und ein Briefchen Streichhölzer aus meiner Handtasche, zündete die Zigarette an und nahm einen Zug, um meine Nerven zu beruhigen. War ich in der Bredouille, weil ich den Engländer ohne Zustimmung meines Führungsoffiziers in meinen Freundeskreis aufgenommen hatte? »Er stand plötzlich vor meiner Tür«, erklärte ich. »Ein englischer Kommunist hat für ihn gebürgt, und die Genossen von der Roten Hilfe haben ihm meine Adresse gegeben.«
    »Wie heißt er?«
    »Sie kennen seinen Namen doch sicher längst, wenn Sie wissen, dass er sich in meinem Gästezimmer eingemietet hat.«
    »Wie heißt er?«
    »Harold Philby. Seine Freunde nennen ihn Kim.«
    Aus dem Schatten auf der anderen Seite des Raumes drang die raue Stimme des Mannes zu mir herüber: »Schlafen Sie mit ihm?«
    Ich sah ihn an. Eine dünne Rauchfahne stieg von seiner Zigarette zur Decke. »Ja.«
    Mein Führungsoffizier fragte: »Was können Sie uns über seine politische Orientierung sagen?«
    »Er betrachtet sich als Marxisten und Sozialisten und gibt zu, sich zum Kommunismus hingezogen zu fühlen. Auf jeden Fall ist er ein Feind Hitlers und ein Bewunderer der Sowjetunion, die er für ein Bollwerk gegen den Faschismus hält. Sich selbst sieht er
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