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Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)

Titel: Philby: Porträt des Spions als junger Mann (German Edition)
Autoren: Robert Littell
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können. Ich hatte noch keine Schlussfolgerungen gezogen, aber bereits Unstimmigkeiten in der Zusammenfassung meines direkten Vorgängers entdeckt, die er vor seiner Deportation in ein sibirisches Arbeitslager angefertigt hatte. Mein Sektionschef in der Abteilung 5 der Hauptverwaltung für Staatssicherheit, Oberleutnant Gussakow, begleitete mich bis zur Tür des Verhörraumes. Ich erinnere mich, wie er seine gestärkte Manschette hochschob und ungeduldig auf die Uhr innen an seinem dicken Handgelenk sah. »Sie haben eine halbe Stunde, Unterleutnant Modinskaja. Nicht eine Minute länger. Wir dürfen die Genossen in der Krypta nicht warten lassen.«
    Ein Wärter schloss die Tür zu einem schmalen, nackten Raum mit hoher Decke auf. Ich hörte, wie er hinter mir abschloss. Es roch ausgesprochen unangenehm. Aschfahl und bleischwer sickerte das erste Licht des Tages durch den Fensterschlitz oben in der Wand, und ich glaubte das Kreischen der Bremsen zu hören, mit dem die Straßenbahnen draußen vor der Lubjanka auf dem Dserschinski-Platz zum Stehen kamen, um die Arbeiter der Nachtschicht in sich aufzunehmen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich konnte die Gestalt eines Mannes auf einem dreibeinigen Hocker ausmachen. Er war groß und dünn, ja geradezu ausgemergelt, unrasiert, ungepflegt und trug eine völlig verknitterte Anzugjacke über einem verdreckten weißen, bis zum knochigen Hals zugeknöpften Hemd. Auf seiner Oberlippe war ein dünnes, dreieckiges Bärtchen zu erkennen, das Kopfhaar war verfilzt. Die nackten Füße steckten in Schuhen ohne Schnürsenkel. Zu meiner Erleichterung waren Füße und Hände gefesselt.
    Ich setzte mich auf das einzige weitere Möbelstück im Raum, einen Holzstuhl mit gerader Rückenlehne, wie er in jeder ehrbaren sowjetischen Küche steht. Der Gefangene starrte unverwandt ins Nichts, und ich räusperte mich. Der Mann nahm meine Anwesenheit mit einem Schaudern zur Kenntnis. Sein Kopf zuckte zum Gruß ungelenk zur Seite, und ich hörte ihn murmeln: »Ich bitte um Entschuldigung.«
    »Wie bitte?«
    »Das Letzte, womit ich gerechnet habe, war, jetzt noch von einer Frau verhört zu werden. Als sie mich aus meiner Zelle geholt haben, dachte ich, ich werde hingerichtet … und habe mir in die Hose gemacht. Ich habe meinen Geruchssinn verloren, als sie mir beim Verhör die Nase gebrochen haben, aber aus den Gesichtern der Genossen Wärter zu schließen, die mich herbrachten, muss ich schrecklich stinken.«
    Ich merkte, wie er versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Ich sah, wie er seine gefesselten Hände hob, konnte aber, als er den Kopf senkte, nicht erkennen, ob er sich Tränen aus den Augen, Schweiß von der Stirn oder Schleim aus den Mundwinkeln wischte.
    »Es tut mir leid, Sie in solch einem Zustand vorzufinden«, sagte ich, da ich dachte, ein Ausdruck von Mitgefühl könnte eine günstige Atmosphäre für das Verhör schaffen. »Wie ich sehe, tragen Sie einen Ehering. Ist Ihre Frau mitgekommen, als Sie nach Moskau zurückbeordert wurden?«
    »Ihr wurde befohlen mitzukommen. Sie hat nicht geahnt …« Der Gefangene räusperte sich. »Sie hielt die Gerüchte über Säuberungen im NKWD für kapitalistische Propaganda und meinte, als engagierte Kommunisten, die sich nichts zuschulden hatten kommen lassen, müssten wir sowieso nichts befürchten.«
    »Wo ist sie jetzt?«
    »Ich hatte gehofft, das könnten
Sie
mir sagen.«
    »In den Akten zu Ihrem Prozess wird sie nicht erwähnt.«
    »Eines Nachts, kurz nach meiner Verhaftung, hörte ich jemanden in einer weit entfernten Zelle meinen Namen rufen. Ich glaube, es war die Stimme meiner Frau.« Er sah auf. »Bitte helfen Sie mir.«
    Ich wandte mich ab. »Sie sind von einem Sondertribunal zum Volksfeind erklärt worden. Es gibt nichts, was ich für Sie tun könnte.«
    »Halten Sie mich ernsthaft für einen faschistischen Agenten?«
    »Ich habe das Urteil gelesen. Sie haben gestanden, für die Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht gearbeitet zu haben.«
    »Ich bin gefoltert worden. Sie haben das Geständnis aus mir herausgeprügelt. Ich habe erst gestanden, als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren.« Mit kratzender, flüsternder Stimme sagte er: »Geben Sie mir wenigstens eine Zigarette.«
    Ihm zu gestatten, den Raum mit Zigarettenrauch zu füllen, hätte wenigstens eines meiner Probleme gelöst. Leider war es gegen die Regeln. »Das ist nicht erlaubt«, sagte ich.
    »Jedes zivilisierte Land dieser Welt gesteht
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