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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Autoren: Gerhard Roth
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Schließlich meinen viele Experten, dass auch in Bezug auf die sexuellen Präferenzen eines Menschen neben genetischen Faktoren Prägungsvorgänge im Mutterleib und in der ersten Zeit nach der Geburt eine wichtige Rolle spielen.
    Fest steht inzwischen, dass traumatische Ereignisse kurz vor, während und nach der Geburt wie etwa Gewalteinwirkung, starke psychische Belastungen und Drogeneinnahme bzw. massiver Alkohol- und Nikotinmissbrauch der Mutter gegen Ende der Schwangerschaft eine hohe Übereinstimmung mit späterem selbstschädigenden Verhalten einschließlich eines erhöhten Selbstmordrisikos des Individuums aufweisen. Dies erklärt sich dadurch, dass das noch sehr unreife und sich schnell entwickelnde Gehirn des Ungeborenen äußerst empfänglich für Umwelteinflüsse ist, die entweder direkt auf den Fötus oder indirekt über das Gehirn der Mutter, das ja mit dem des Fötus eng zusammenhängt, einwirken. Alles, was die Mutter an Schädigungen sich selbst zufügt oder was ihr zugefügt wird, beeinflusst ihr Gehirn, und dort werden als Reaktion bestimmte Substanzen freigesetzt, die dann über die Blutbahn zum Ungeborenen und seinem Gehirn laufen und dort Schaden anrichten können und gleichzeitig prägend wirken. So werden auch die Fähigkeit, Stress zu ertragen, und die Empfindlichkeit für Schmerz im Erwachsenenalter vorgeburtlich und durch die Ereignisse während der Geburt bestimmt. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Stresstoleranz des Erwachsenen deutlich erniedrigt und die Schmerzempfindlichkeit deutlich erhöht sind, wenn die Umstände um die Geburt herum für das Neugeborene stark belastend bzw. schmerzvoll waren (Anand und Scalzo, 2000).
    Der frühen Mutter-Kind-Beziehung bzw. der frühkindlichen Bindungserfahrung wird seit den bahnbrechenden Untersuchungen des österreichisch-amerikanischen Mediziners und Psychologen René Spitz (1887 – 1974) eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen zugeschrieben. Spitz erkannte als erster, dass die Art der emotional-nichtverbalen Kommunikation zwischen dem Säugling und seiner Bezugsperson, vornehmlich der leiblichen Mutter, entscheidend für die weitere psychisch-kognitive Entwicklung des Säuglings und Kindes ist und dass Defizite in diesem Bereich (der bekannte »Hospitalismus«) schwere und häufig irreparable psychische Schäden hervorrufen können, wie die jüngsten Untersuchungen an russischen und rumänischen Waisenkindern zeigen, die adoptiert wurden.
    Diese Erkenntnisse aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stießen anfangs auf Desinteresse und gar Ablehnung, weil sie weder in das herrschende behavioristische Erziehungsparadigma (s. Exkurs 3) noch in die heile Familienwelt-Ideologie der damaligen USA passten. Hinzu kam, dass die Beschäftigung mit Säuglingen und Kleinkindern auch für Sigmund Freud und die Psychoanalytiker kein ernsthaftes Thema war – man interessierte sich für Kindheit und Jugend nur aus der Perspektive des erwachsenen Patienten. Schließlich waren die Erkenntnisse von Spitz auch nicht direkt in der psychologisch-psychotherapeutischen Praxis anwendbar, weil nicht quantifizierbar.
     
    Ein großer Durchbruch in jeder Hinsicht ergab sich durch die Arbeiten zweier bedeutender Personen, John Bowlby und Mary Ainsworth. Der englische Kinderpsychiater John Bowlby (1907 – 1990) begründete als erster die systematische Erforschung der psychischen Entwicklung des Kleinkindes und thematisierte im Rahmen der Bindungs-Forschung die grundlegende Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung. Die amerikanische Psychologin und Mitarbeiterin Bowlbys Mary Ainsworth (1913 – 1999) entwickelte diesen Ansatz weiter, insbesondere durch die Erstellung von »Bindungstypen« aufgrund einer experimentellen Standardsituation, der so genannten »fremden Situation« (vgl. Strauß et al., 2002): Kinder im Alter zwischen 12 und 18 Monaten betreten zusammen mit ihrer Mutter einen Beobachtungsraum, den sie beide erkunden. Dann betritt eine fremde Frau den Raum und nimmt Kontakt mit beiden auf. Daraufhin verlässt die Mutter den Raum, und die fremde Person bleibt mit dem Kind allein. Schließlich kommt die Mutter zurück (»erste Wiedervereinigung«), und die fremde Person geht hinaus. Die Mutter verlässt nun zum zweiten Mal den Raum und lässt das Kind allein zurück. Die fremde Frau betritt wieder den Raum und nach einiger Zeit auch wieder die Mutter (»zweite Wiedervereinigung«), und die Fremde geht wieder hinaus. Bei
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