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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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Magen; aber die Vorstellung, unten in dem vornehmen Speisesaal zu sitzen und mit Besteck aus Silber zu essen, war unerträglich. Und auch sonst ekelte ihn der Gedanke an Essen. Es kam ihm in diesem Augenblick vor, als könnten Flauheit und Hunger so groß werden, wie sie wollten: Essen würde er erst wieder auf dem Heimflug, an jenem Punkt in der Zeit, der in so entsetzlich weiter Ferne lag.
    Er legte sich aufs Bett. Brian Millar war jetzt in Rom. Seine Maschine aus New York war heute früh dort gelandet, und jetzt traf er sich mit dem italienischen Kollegen, um den Plan für die linguistische Enzyklopädie zu besprechen. Er würde erst am späten Nachmittag nach Genua weiterfliegen. Also noch ein paar Stunden Aufschub bis zu dieser Begegnung. Auch bei Laura Sand würde es später Nachmittag werden, sie mußte zuerst mit dem Zug von Oxford nach London fahren und flog dann über Mailand. Es mußte alles ziemlich anstrengend für sie sein, denn sie war eben erst von ihren Tieren in Kenia zurückgekommen. Ob sie sich treu blieb und auch hier ganz in Schwarz ankam? Adrian von Levetzov hatte sich für den frühen Nachmittag angekündigt; in seiner gespreizten, barocken Art hatte er etwas von einem Direktflug Hamburg-Genua geschrieben. Frau Hartwig hatte über den scharfen Kontrast lachen müssen, in dem sein vornehmes Briefpapier zu Achim Ruges abgerissenem Zettel stand, auf dem er quer über mehrere Kaffeeflecke hinweg mitteilte, er müsse noch die Arbeit in seinem Bochumer Labor für die Zeit seiner Abwesenheit organisieren und könne nicht sagen, ob er Dienstag oder erst Mittwoch komme. Wann Giorgio Silvestri sich in der Klinik in Bologna freimachen konnte, war ungewiß, er wollte auf jeden Fall versuchen, zum Abendessen hier zu sein. Perlmann war sich nach dem Telefongespräch unsicher gewesen, ob er seine verrauchte Stimme mochte oder nicht. Angelinis Hinweis auf ihn war sehr zurückhaltend gewesen, und er wußte eigentlich nicht genau, warum er ihn eingeladen hatte. Vielleicht einfach, weil Agnes gesagt hatte, Sprachstörungen bei Psychosen, das müsse doch interessant sein.
    Die erste würde Evelyn Mistral sein. Der Zug aus Genf sollte um halb zwei in Genua ankommen. Er werde es nicht bereuen, hatte ihm ihr Chef geschrieben, als er sie an seiner Stelle vorschlug, weil er selbst sich einer Operation unterziehen mußte. Man werde in der Entwicklungspsychologie noch viel von ihr hören. Die Liste ihrer Veröffentlichungen war für jemanden, der erst neunundzwanzig war, beeindruckend. Aber der Stapel ihrer Sachen, den Frau Hartwig ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte, war ungelesen geblieben. Das einzige, was er von ihr kannte, war ihre Stimme am Telefon, eine unerhört helle Stimme mit einem abgeschliffenen spanischen Akzent.
    Die Höflichkeit gebot, daß er als der Gastgeber unten auf sie wartete. Aber es dauerte fünf weitere, bleierne Minuten, bis er sich schließlich erhob. Als er zum Sessel hinüberging, um die Jacke zu holen, stolperte er über den leeren Handkoffer. Er wollte ihn zumachen und wegstellen, da bemerkte er Leskovs Text, der halb verborgen in einer Seitentasche steckte, ein dickes Typoskript in russisch, eine schlechte Fotokopie in einem ungewöhnlichen Papierformat, vom Transport an den Ecken eingeknickt und auch sonst zerknittert. Der Text hatte dem Brief beigelegen, in dem Leskov mitteilte, er habe keine Ausreisegenehmigung erhalten und hätte nun ohnedies nicht kommen können, da seine Mutter plötzlich schwer erkrankt sei. In dem Text gehe es um das, woran er gerade arbeite, hatte er geschrieben, und er hoffe, auf diese Weise wissenschaftlich mit ihm in Verbindung bleiben zu können. Es war eine Schmeichelei, ihm diesen Text zu schicken, hatte Perlmann gedacht, so weit war er mit dem Russischen noch längst nicht. Er hatte ihn weggelegt und vergessen. In die Hand gefallen war er ihm erst wieder am Sonntagabend beim Packen. Es ist Unsinn, hatte er gedacht; aber der Gedanke, einen russischen Text bei sich zu haben, hatte ihm irgendwie gefallen, es war etwas Exotisches und dadurch Intimes, und so hatte er ihn am Ende doch eingesteckt, zusammen mit dem russischen Taschenwörterbuch.
    Als er ihn jetzt in der Hand hielt, kam ihm der Text plötzlich als etwas vor, mit dem er sich gegen die anderen abgrenzen und verteidigen konnte. Sich diesen Text zu erschließen, es wenigstens zu versuchen, das war doch ein Vorhaben für die kommenden Wochen. Es war etwas, in das er sich in der freien Zeit
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