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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Autoren: Pascal Mercier
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Russisch weiterredete, bis er merkte, daß Perlmann in keiner Weise folgen konnte. Leskov kannte die Bilder, die hier versammelt waren, sehr genau, er wies auf manches hin, was man sonst bei einem ersten Rundgang nicht bemerken würde, und von Zeit zu Zeit sagte er etwas Einfaches auf russisch, langsam und deutlich. Perlmann verlebte diese Stunden in einer Stimmung, in der sich die Wirkung der Bilder und die Freude über verstandene russische Sätze mit dem Schmerz darüber mischten, daß er all das Agnes nicht mehr würde erzählen können, daß er ihr nie mehr irgend etwas würde erzählen können.
    Er hatte der Versuchung widerstanden, aus dieser Stimmung heraus von Agnes zu sprechen; was ging das diesen Russen an. Erst als sie von der anderen Seite des Flusses, von der Peter-Pauls-Festung aus auf den Winterpalast blickten, fing er davon an, ausgerechnet jetzt, da die frühere Intimität in der schneidend kalten Luft verflogen war. Es geschah gegen seinen Willen, und er war wütend, als er sich zu allem Überfluß auch noch davon sprechen hörte, wie schwer es ihm seither falle, in der Wissenschaft weiterzumachen. Zum Glück begriff Leskov seine Äußerungen nicht in ihrer vollen Bedeutung. Er erwiderte nur, das sei doch ganz natürlich nach einem solchen Verlust, und fügte beinahe väterlich hinzu, das werde sich bestimmt wieder geben. Und dann, aus der erneut entstandenen Intimität heraus, erzählte er ihm, daß er als Dissident im Gefängnis gewesen war. Er sagte nicht, wie lange, und auch sonst erzählte er keine Einzelheiten. Perlmann wußte nicht, wie er auf diese Mitteilung reagieren sollte, und es entstand für einen Moment eine unbehagliche Pause, die Leskov schließlich beendete, indem er ihn am Oberarm faßte und mit unpassender, künstlicher Munterkeit vorschlug, sie sollten doch du zueinander sagen. Perlmann war froh, daß Leskov danach bald nach Hause mußte, um nach seiner alten Mutter zu sehen, bei der er wohnte, und daß er ihn nicht etwa einlud mitzukommen. Auf die Einladung nach Santa Margherita, die Perlmann ihm wenige Wochen danach schickte, hatte er mit einem überschwenglichen Brief geantwortet: Er werde umgehend eine Ausreisegenehmigung beantragen. Vor drei Monaten dann war die deprimierte Absage gekommen, der dieser Text beigefügt war.
    Den ersten Satz verstand Perlmann auf Anhieb. Im zweiten kamen zwei Wörter vor, die ihm noch nie begegnet waren; aber eigentlich war klar, was sie bedeuten mußten. Der dritte Satz war ihm von der Konstruktion her undurchsichtig, aber er las weiter, über eine Reihe unbekannter Wörter und Wendungen hinweg bis zum Ende des ersten Absatzes. Von Satz zu Satz wurde er aufgeregter, und jetzt war es bereits wie ein Fieber. Ohne den Blick vom Blatt zu nehmen, suchte er in der Jackentasche nach einem Bonbon. Dabei bekam er die Schachtel Zigaretten zu fassen, die er gestern bei der Ankunft auf dem Flughafen gekauft hatte. Zögernd legte er sie auf den Bistrotisch zum Wörterbuch und nahm sie dann wieder in die Hand. Es war gestern wie unter Zwang geschehen, daß er sie gekauft hatte, und genau in dem Moment, als ihn das Gefühl überfallen hatte, daß er nun unwiderruflich hier angekommen war – daß es nun keine Lücke mehr gab, weder im Raum noch in der Zeit, die ihn vom Beginn dieses Aufenthalts trennte, und daß damit nicht mehr die geringste Möglichkeit übrigblieb, daß es vielleicht doch nicht dazu käme. Es war ihm wie eine Niederlage vorgekommen, als er die Packung entgegennahm, und er hatte, als er sie einsteckte, die dumpfe Empfindung eines drohenden und unaufhaltsamen Unheils gehabt.
    Es war seine alte Marke, die er bis vor fünf Jahren geraucht hatte. Die freudige Aufregung über den unerwarteten Erfolg beim Lesen von Leskovs Text verfärbte sich und verschmolz mit der prickelnden Angst vor dem Verbotenen, als er jetzt mit zittrigen Fingern eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Das trockene Papier fühlte sich auf unheilvolle Weise vertraut an. Er ließ sich Zeit. Er konnte es immer noch sein lassen, sagte er sich mit klopfendem Herzen. Aber sein Selbstvertrauen, das spürte er überdeutlich, lief aus wie durch ein Leck.
    Er merkte, daß er kein Feuer hatte, und war erleichtert über diesen Aufschub. Für einen Moment gewann er etwas Selbstvertrauen zurück. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und dachte an den Urlaubstag damals auf der Klippe, im Wind. Agnes und er hatten sich angesehen und dann gleichzeitig ihre brennenden Zigaretten ins
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