Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
erwache, ist mein Kopf klar. Ich spüre kein Unbehagen.
    Wir sind erlöst.
     
    Diesmal jubeln die Blätter über das Ende der »Nächtlichen Heimsuchungen« oder der »Schlafkrankheit« oder des »Traumfluchs« oder welche Bezeichnung die jeweilige Zeitung geprägt haben mochte.
    Wir lesen sie und lachen, Derkhan und Isaac und ich. Freude liegt in der Luft. Die Stadt ist erneuert. Verwandelt.
    Wir warten, dass Lin erwacht, ihr Bewusstsein wiedererlangt.
    Aber das soll nicht sein.
     
    Jenen ersten Tag hat sie verschlafen. Ihr Körper begann sich zu erholen. Sie hielt Isaac umschlungen und wollte nicht wach werden. Frei, und die Freiheit zu schlafen ohne Furcht.
    Doch nun ist sie erwacht und hat sich aufgerichtet. Ihre Kopfbeine zittern ein wenig. Ihre Mandibeln kauen. Sie ist hungrig, und wir finden Obst in unseren Vorräten und geben ihr Frühstück.
    Sie schaut unsicher von mir zu Derkhan und zu Isaac, während sie isst. Er umfasst ihre Schenkel und spricht flüsternd auf sie ein, zu leise, als dass ich etwas verstehen könnte. Sie wendet ruckartig den Kopf ab, wie ein Säugling. Sie bewegt sich mit einem spastischen, krampfartigen Zittern.
    Sie hebt die Hände und antwortet ihm mit den Fingern.
    Er beobachtet sie begierig, sein Gesicht verzerrt sich in ungläubiger Bestürzung bei ihren ungeschickten, plumpen Zeichen.
    Derkhans Augen werden groß, als sie die Worte liest.
    Isaac schüttelt den Kopf, kann kaum sprechen.
    Morgen … Essen … warm halten, die Stimme versagt ihm, Insekt … Reise … glücklich.
    Sie kann nicht selbst essen. Ihre äußeren Kiefer schließen sich wie in einem Krampf und schneiden die Frucht in zwei Hälften oder öffnen sich plötzlich kraftlos und lassen sie fallen. Sie bebt am ganzen Körper vor zorniger Enttäuschung, wiegt den Kopf hin und her und stößt einen Sprühnebel aus, von dem Isaac sagt, es sind Khepritränen.
    Er beruhigt sie, hält den Apfel fest, hilft ihr abzubeißen, wischt ihr den Saft ab und was ihre Mundwerkzeuge fallen lassen. Angst, zeigt sie, wie Isaac zögernd übersetzt. Kopf müde durcheinander Kunst, Vielgestalt! Plötzlich fröstelt sie, schaut sich angstvoll um. Isaac redet ihr gut zu, wiegt sie tröstend. Derkhan schaut bekümmert zu. Allein, zeigt Lin verzweifelt und versprüht eine chymische Botschaft, die keiner von uns zu deuten weiß. Monster warm Remade … Sie schaut sich um. Apfel, zeigt sie. Apfel. Isaac hält ihn ihr an den Mund und lässt sie abbeißen. Sie zappelt freudig wie ein Wickelkind.
     
    Als es dunkelt und sie wieder in Schlaf fällt, schnell und tief sprechen Isaac und Derkhan miteinander, und Isaac beginnt zu toben und zu brüllen und zu weinen.
    Sie wird sich erholen, schreit er, als hin sich im Schlaf bewegt. Sie ist halb tot vor Erschöpfung, man hat ihr wer weiß was angetan, kein Wunder, dass sie durcheinander ist …
    Aber sie wird sich nicht erholen, und er weiß es.
     
    Wir entrissen sie dem Falter halb getrunken. Die Hälfte ihres Verstandes, die Hälfte ihrer Träume waren in dem Schlund der vampirischen Kreatur verschwunden. Sie sind dahin, unwiderbringlich, verbrannt erst von Magensäften und dann von Vielgestalts Schergen.
    Lin erwacht heiter, spricht lebhaft, unsinnig mit den Händen, will allein stehen und kann es nicht, fällt hin und weint oder lacht chymisch, schnattert mit den Mandibeln, beschmutzt sich wie ein Säugling.
    Lin torkelt über unser Dach mit ihrem halben Verstand. Hilflos. Nicht mehr sie selbst. Nie mehr sie selbst. Ein Flickwerk aus kindlichem Lachen und erwachsenen Träumen, ihre Kommunikation ist verschlüsselt und unverständlich, komplex und heftig und infantil.
    Isaac ist am Boden zerstört.
     
    Wir ziehen um auf ein anderes Dach, beunruhigt von Geräuschen, die von der Straße heraufdringen. Lin bekommt unterwegs einen Wutanfall, ist außer sich wegen unserer Unfähigkeit, ihre wirren Mitteilungen zu verstehen. Sie hämmert mit den Fersen auf das Pflaster, schlägt Isaac mit schwachen Fäusten. Sie zeigt hässliche Beleidigungen, will nach uns treten.
    Wir halten sie fest, stellen sie ruhig, bringen sie in das neue Versteck.
     
    Wir rühren uns nur bei Nacht. Wir fürchten die Miliz und Vielgestalts Männer. Wir sind auf der Hut vor Konstrukten, die uns an den Konzil verraten könnten. Wir achten auf plötzliche Bewegungen und neugierige Blicke. Wir dürfen unseren Nachbarn nicht trauen. Wir leben in einem Nachtland, isoliert, solipsistisch. Wir stehlen, was wir brauchen, oder kaufen in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher