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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber
Autoren: China Miéville
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zerlumpten Kleidern, ohne sein mitleidloses, armseliges Lebewohl zu lesen. Ich kann nicht mit Überzeugung sagen, dass ich ihn verachte. Ich kann nicht mit Überzeugung sagen, dass ich anders gehandelt haben würde.
    Ich verlasse das Haus.
    Ein paar Straßen weiter, noch in Saltbur, ragt ein Wohnturm fünfzehn Stockwerke hoch über die östlichen Bezirke der Stadt. Der Schließmechanismus der Eingangstür funktioniert nicht. Es ist leicht, über das Tor zu klettern, das vorgibt, den Zugang zu dem flachen Dach zu versperren. Ich bin schon früher hinaufgestiegen.
    Es ist nur ein kurzer Weg, ich gehe ihn, wie in einem Traum befangen. Die Leute starren mich an. Ich habe meine Kapuze nicht übergezogen; es erscheint mir nicht mehr wichtig.
    Niemand hindert mich, als ich nach oben steige. In zwei Stockwerken öffnen sich die Türen einen Spalt, und die Blicke unsichtbar bleibender Augen folgen mir die Treppe hinauf. Doch niemand stellt mich zur Rede und nach wenigen Minuten stehe ich auf dem Dach.
    Fünfzig Meter oder mehr. Es gibt zahlreiche Gebäude in New Crobuzon, die höher sind, aber auch dieses ragt aus dem Gewirr von Straßen, Beton und Backstein heraus wie etwas Gigantisches, das der kreißende Meeresboden aus dem Wasser hebt.
    Ich gehe vorbei an dem Betongeröll, den Spuren nächtlicher Lagerfeuer, den Hinterlassenschaften von Pennern und unbefugten Dachbesetzern. Heute Nacht bin ich allein.
    Die Ziegelbrüstung ist anderthalb Meter hoch. Ich beuge mich hinüber und schaue auf die Stadt, nach allen Seiten.
    Ich weiß, was ich sehe.
    Ich weiß genau, wo in der Geografie New Crobuzons ich mich befinde.
    Da hinten eine Ahnung der Glashauskuppel, ein Streifen trüben Lichts zwischen zwei Gastanks. Die in den Himmel krallenden Rippen sind nur eine Meile entfernt, lassen die Bahngleise und umliegenden Häuser winzig erscheinen. Wie dunkle Krauskohlköpfe tüpfeln Baumgruppen die Stadt. Die Lichter, das Regenbogenmeer der Lichter unter mir …
    Ich springe auf die Brüstung und richte mich auf.
    Ich stehe jetzt hoch über New Crobuzon, der nimmer ruhenden Megalopolis.
    Es ist so riesig, gewaltig. Ein steinerner Ozean. Alles ist darin enthalten, ausgebreitet zu meinen Füßen.
    Ich kann die Flüsse sehen. Der Canker ist vielleicht sechs Minuten Flug entfernt. Ich breite die Arme aus.
     
    Die Winde brausen zu mir hinauf, packen und schütteln mich übermütig. Die Luft ist wild und lebendig.
    Ich schließe die Augen.
    Ich kann es mir ausmalen, bis in die kleinste Einzelheit. Sich mit den Beinen abstoßen und fühlen, wie meine Schwingen die Luft greifen und sie mühelos erdwärts schleudern, in großen Batzen von mir wegschaufeln, wie Paddel. Die schwere Plackerei in widrigen Luftströmungen, wo die Federn sich bauschen und sträuben, dann wieder segeln, kreisen, sich hinaufschrauben, höher und höher. Es ist eine andere Stadt, von oben gesehen. Die verborgenen Gärten enthüllen mir ihre Schönheiten. Die dunklen Steine kann man abschütteln wie Schlamm. Jedes hohe Gebäude ist ein Horst. Die Masse der Stadt kann mit Geringschätzung behandelt werden – landen und auffliegen nach Belieben, die Luft mit Exkrementen besudeln.
    Aus der großen Höhe sind die Regierung und die Miliz aufgeblasene Termiten, Unansehnliches zieht rasch vorbei, die Demütigungen, die im Schatten der Mauern stattfinden, sind nicht meine Sorge.
    Der Wind drückt meine Finger auseinander, stößt mich aufmunternd an. Ich fühle das Zucken, als die schartigen Stümpfe meiner Flügelknochen sich recken, eingesperrt unter Fleisch und Haut.
    Ich werde dies nicht wieder tun. Ich werde nicht länger dieser Krüppel sein, dieser der Erdenschwere unterworfene Vogel.
    Dieses Halbleben endet jetzt, mit meiner Hoffnung.
    So genau kann ich mir meinen allerletzten Flug vorstellen, in weitem, vollkommenem Bogen hinaus in die Luft, die sich öffnet wie die Arme einer verlassenen Liebsten, um mich willkommen zu heißen.
    Soll der Wind mich nehmen.
    Ich neige mich auf der Brüstung nach vorn, hinaus über die brodelnde Stadt, in die Leere.
     
    Die Zeit steht still. Ich verharre in der Schwebe. Kein Geräusch. Die Stadt und der Wind verharren in Bereitschaft …
     
    Und ich hebe langsam die Hände und kämme mit den Fingern durch meine Federn. Schiebe sie vor mir her – meine Haut kribbelt –, unerbittlich, gegen den Strich. Ich öffne die Augen. Meine Finger schließen sich, krallen sich um die steifen Kiele und gefetteten Vexillen an meinen Wangen, und ich
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