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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn
Autoren: Evelyn Sanders
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ihrem Schwiegervater. Dazu bekam er noch eine sorgfältig geschriebene und in einzelne Punkte gegliederte Gebrauchsanweisung, wer wann wie viele Blätter Klopapier benutzen darf und daß bei Durchfall ein ärztliches Attest beizubringen sei.
    Opa führte über alles Buch. Er konnte noch nach Jahrzehnten belegen, wann mein Vater seinen ersten Zahn bekommen und wann er ihn wieder verloren hatte, wie oft und weshalb er krank gewesen war und wie seine Lehrer hießen. Sogar seine Zeugnisnoten sind der Nachwelt – also mir! – erhalten geblieben und haben sich später als sehr nützlich erwiesen.
    Übrigens gehörte zur Familie Helmberg auch noch Onkel Egon, der jüngere Bruder meines Vaters. Er war sehr stolz auf seine Nichte und legte größten Wert darauf, daß ich ihn, den damals Siebzehnjährigen, mit Onkel anredete. Leider ist er gleich zu Beginn des Rußlandfeldzugs gefallen.
2
    Und eines Tages war er dann wirklich da, der Krieg.
    Die ersten Auswirkungen bekam ich zu spüren, als mein Vater in Uniform vor der Tür stand und sehr heroisch aussah. Er hatte sich freiwillig gemeldet.
    »Mein Jahrgang ist doch als erster dran«, hatte er seine übereifrige Pflichterfüllung begründet, »und als Freiwilliger kann ich mir wenigstens die Waffengattung aussuchen. Ich habe mich zur Flak gemeldet. Diese Dinger kann man nicht schultern wie Maschinengewehre, also werden mir Fußmärsche hoffentlich erspart bleiben.«
    »Warum hast du denn nicht die Offizierslaufbahn eingeschlagen?« wollte Omi wissen. »Als Abiturient stehen dir doch jetzt alle Wege offen.«
    Vati winkte ab. »Ich bin doch nicht verrückt. Offiziere sind immer die letzten, die aus Gefangenenlagern entlassen werden. Im übrigen dürfte dir bekannt sein, Schwiegermama, daß man auch als ganz einfacher Gefreiter Karriere machen kann, wenn man nur genügend Größenwahn mitbringt.«
    Das war eine defaitistische Äußerung, und mir wurde eingebleut, daß ich darüber zu schweigen hätte.
    Viel wichtiger als der Krieg war für mich ohnehin die bevorstehende Einschulung. Dieses Ereignis fand im April 1940 statt, kurz vor meinem sechsten Geburtstag. Deshalb bekam ich mein Geschenk auch etwas früher.
    »Ich habe noch einen richtigen Lederranzen aufgetrieben«, freute sich Mami, als sie mir das unerläßliche Tribut meiner neuen Würde zum erstenmal umschnallte. »Die meisten sind schon aus präparierter Pappe.«
    Natürlich war auch die Schultüte besonders schön und besonders groß, und nachdem ich mit diesem Unding längelang auf das Straßenpflaster geknallt war, schleppte Omi es bis zur Schule und auch wieder zurück.
    Den Schulweg kannte ich bereits. Die Schule auch. Sie war ausschließlich Mädchen vorbehalten, denn von Koedukation hielt man damals noch nicht sehr viel. Wenn wir zum Friedhof gingen, um meinen toten Großvater zu begießen, dann kamen wir immer an der Zinnowwaldschule vorbei, einem modernen Flachbau, direkt am Waldrand gelegen und von hohen Kiefern umstanden. Selbige gewährten Schutz vor Feindeinsicht; zumindest fanden das die Herren vom Roten Kreuz und verwandelten die Schule ziemlich bald in ein Lazarett. Die ausquartierten Kinder wurden auf andere und wesentlich entferntere Schulen verteilt.
    Meine erste Lehrerin hieß Fräulein Korody, trug die Haare zu Zöpfen geflochten und als Affenschaukeln aufgesteckt, erschien mit Vorliebe in BDM-Uniform und brachte uns zunächst einmal das Deutschlandlied bei, und davon drei Strophen.
    »Das ist unsere Nationalhymne«, verkündete sie mit verklärtem Blick. »Damit sie euch in Fleisch und Blut übergeht, werden wir sie jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn singen.«
    Also standen wir pflichtgemäß morgens neben unseren Bänken und sangen ›Deutschland, Deutschland über alles… ‹ Selbstverständlich mußte auch der ausgestreckte rechte Arm in die Höhe gehalten werden, und weil der regelmäßig nach der zweiten Strophe erlahmte, nahm ich manchmal den linken. Natürlich wurde das entdeckt, Fräulein Korody holte mich zur Strafe nach vorne, hielt der gesamten Klasse und besonders mir einen Vortrag über Selbstbeherrschung und Zähigkeit; und während der folgenden Tage hatte ich das morgendliche Ritual neben der Tafel zu überstehen. Nach ein paar Monaten meldete sich Fräulein Korody zum Kriegseinsatz und wir bekamen Fräulein Luhde.
    Die war etliche Jahrzehnte älter als ihre Vorgängerin, trug ihre spärlichen grauen Haare in treppchenartigen Wellen und bevorzugte Kleider, für die sie zwanzig
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