Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn
Autoren: Evelyn Sanders
Vom Netzwerk:
Siedlung, in der bunt durcheinander Reihenhäuser, Ein- und Zweifamilienhäuser, kleinere und größere Wohnblocks mit flachen und spitzgiebeligen Dächern aus dem Boden schossen, getrennt durch Gärten oder großzügige Grünanlagen. Darüber hinaus wichen die Architekten von den üblichen grauweißen oder ockerfarbenen Fassaden ab und strichen die neuen Häuser bunt an. Halb Berlin pilgerte damals nach Zehlendorf und bestaunte den ›Tuschkasten‹.
    »Kiek ma, Orje, det jelbe Haus mit det rote Dach druff sieht ja nu wirklich aus wie Vanilljepudding mit Himbeersoße.«
    »Det jeht ja noch, aba haste da vorne den rosanen Wohnblock jesehn mit die helljrüne Türen? Hat ausjesehn wie’ne Schtrampelhose für kleene Meechen. Möchste in so’ne Bonbontüte wohnen?«
    »Nee, aber det ville jrün überall und die Blumen und so, det könnt ma jefallen.«
    Trotzdem gab es anfangs nur wenige Mutige, die nach ›Onkel-Toms-Hütte‹ zogen. Meine Eltern gehörten dazu. Sie mieteten die Parterrewohnung im vorletzten Haus – es war resedagrün – eines Wohnblocks in der Riemeisterstraße. Die Wohnung umfaßte dreieinhalb Zimmer, Küche, Bad und Balkon. Vor dem Haus gab es einen Vorgarten, dann kam ein gepflasterter Bürgersteig, danach ein breiter Sandstreifen, der in regelmäßigen Abständen mit Bäumen bepflanzt war, daran grenzte ein Radfahrerweg, und dann kam erst der Fahrdamm. Und gegenüber kam überhaupt nichts mehr. Da begann nämlich schon der Grunewald. Die andere Straßenseite fing erst fünfzig Meter weiter unten an und war mit Einfamilien-Reihenhäusern bebaut. Im ersten wohnte übrigens Klaus, von dem ich später ebensoviel Dresche bezog wie Johannisbeeren aus seinem Garten.
    »Hier wird das Kind bestimmt aufblühen«, prophezeite Omi, »der Balkon liegt ja auf der Südseite, hat also immer Sonne, und wenn ich an den herrlichen Fichtenduft denke… «
    »Das sind Kiefern«, sagte meine Mutter.
    Als wir in unser neues Heim übersiedelten, waren von den sechs Wohnungen erst drei belegt. Ganz oben wohnte Familie Leutze mit einem halbwüchsigen Sohn, der mir immer die Zunge herausstreckte, sonst aber harmlos war. Ihnen gegenüber residierte eine Regierungsratswitwe mit Gesellschafterin. Beide waren meist auf Reisen und aus diesem Grund für uns ziemlich bedeutungslos.
    Im ersten Stock rechts, also genau über uns, lebte Herr Jäger nebst Gattin, einer geborenen von, kränklich und ihrem cholerischen Ehemann völlig untertan. Als mich Herr Jäger zum erstenmal zu Gesicht bekam, musterte er mich gründlich, um dann Omi leutselig zuzunicken.
    »Nun ja, die Kleine macht ja einen sehr ruhigen Eindruck. Sie müssen nämlich wissen, daß meine Frau ziemlich geräuschempfindlich ist, ganz besonders dann, wenn sie ihren Migräneanfall hat.«
    Kurz nach unserem Einzug wurde auch die andere Wohnung im ersten Stock vermietet. Familie Molden zog ein. Sie bestand aus Herrn Molden, der Künstler war und immer Samtschleifen trug, Frau Molden, die im renommierten Pestalozzi-Fröbel-Haus das Fach ›Hauswirtschaftslehre‹ unterrichtete, Tochter Hella-Maria, aus unerforschlichen Gründen ›Mümmchen‹ genannt, und Grete, einem aus dem Spreewald stammenden Dienstmädchen. Grete schlief zwar nicht bei Moldens, sondern bei einer Fleischermeisterswitwe in einem der Nachbarhäuser, aber sie hielt sich den ganzen Tag bei ihnen auf, kaufte ein, kochte, führte Mümmchen spazieren und ließ sich von Frau Molden nachmittags in Haushaltsführung unterweisen. Die verfügte ja schließlich über staatlich geprüfte Kenntnisse. Nur für die Praxis hatte sie nicht allzuviel übrig.
    Nun war nur noch die andere Parterrewohnung frei.
    »Hoffentlich ziehen da auch noch Kinder rein«, wünschte ich mir.
    »Aber du kannst doch mit Hella-Maria spielen«, sagte Omi, »sie ist doch beinahe genauso alt wie du.«
    »Die ist doof.«
    »So etwas sagt man nicht, das ist ein sehr häßliches Wort«, erklärte meine Großmutter.
    Herr und Frau Zillig, die unsere Hausgemeinschaft schließlich komplettierten, hatten aber noch keine Kinder. Sie waren erst seit drei Monaten verheiratet.
    Die ersten zwei Jahre in Zehlendorf kann ich nur noch bruchstückweise rekonstruieren. Einmal im Jahr erschien ein Fotograf, der mich auf die Sofalehne setzte, dann unter einem schwarzen Tuch verschwand und regelmäßig wieder hervorkam, um den über dem Sofa hängenden, irritierenden Farbdruck von der Wand abzunehmen. Und jedesmal sagte er kopfschüttelnd: »Wie kann man sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher