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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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mich schon mal früher gesehen ?«
    »Ja. Im Sommer. Auf dem Friedhof. Ich...«
    »Dann bist du es gewesen, der Blumen auf Pauls Grab gestellt hat ?« Petr nickte.
    »Ja, das war ich. Ich bin einige Male an seinem Grab gewesen. Manchmal nur, weil ich zufällig in der Gegend war. Aber diesen Sommer hatte ich mich schon vorab entschlossen, sein Grab am Jahrestag seines Todes zu besuchen .« Er lachte auf. »Ich fühlte mich fast ertappt, als ich euch auf den Friedhof kommen sah. Als hätte ich irgendetwas Ungesetzliches oder Verbotenes getan .«
    »Du hast uns kommen sehen ?«
    »Ja. Gerade als ich aufstand, sah ich euch durchs Tor hereinkommen. Einen Moment stand ich nur da und starrte. Auf dich. Dann drehte ich mich um und ging durch das andere Tor hinaus. Ich wollte nicht, dass ihr mich seht. Ich ... ich wollte dich nicht sehen .«
    Wir redeten viele Stunden, Petr und ich. Über Paul.
    Er gab mir weitere Einzelheiten über das, was ich bereits wusste, und er erzählte einiges, das ich noch nicht wusste.
    »Hat Paul Tschechisch gelernt? Ich meine, sodass er es wirklich sprechen konnte ?«
    Petr schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Er hat nur einzelne Worte und Sätze gelernt. Was ich ihm beigebracht hatte .« Er lachte auf.
    »Ich fand immer, er klang wie ein kleines Kind, wenn er etwas auf Tschechisch sagte. Es lag nicht an seiner Aussprache. Im Gegenteil. Aber er sprach wie ein kleines Kind. Erst viel später habe ich begriffen, dass es an meiner Art Tschechisch zu sprechen lag. Paul machte mich ja nur nach. Ich war ja noch ein Kind, als wir aus Prag fortzogen. Zuerst nach Hamburg und dann hierher nach Schweden. Und hier habe ich nicht gerade häufig Tschechisch gesprochen. Mama und Papa wollten so schnell wie möglich Schwedisch lernen. Und so blieben meine Tschechischkenntnisse begrenzt. Man kann schon sagen, dass meine Sprache auf dem Niveau eines Kindes blieb. Aber erst, als er die Worte auf meine Weise aussprach, bemerkte ich, wie kindisch das klang. Verstehst du, was ich meine ?«
    »Ich glaube schon«, antwortete ich und gähnte.
    Petr streichelte meine Wange.
    »Du Ärmster«, flüsterte er. »Wir sitzen schon eine Ewigkeit und reden. Wir sollten uns den Rest der Geschichte vielleicht für ein anderes Mal aufheben. Wenn du findest, dass es langweilig wird .«
    »Gar nicht. Das finde ich nicht«, antwortete ich und räkelte mich. »Ich fühle mich nur ein bisschen dösig. Übrigens gibt es eine Sache, die ich dich fragen muss .«
    »Ach, wirklich ?« , Petr lachte. »Ich finde, du fragst schon die ganze Zeit .«
    »Ja, ich weiß. Aber über diese Frage habe ich so lange nachgedacht. Die anderen fielen mir erst beim Reden ein .«
    Er lächelte. »Nun? Wie lautet deine Frage ?«
    »Also, ich frage mich, was am Freitag, den 20. September 1968, um zehn Minuten nach zwölf geschehen ist ?«
    Zuerst starrte er mich nur an. Dann fingen seine Augen zu funkeln an. »Bist du verrückt ?« , scherzte er. »Glaubst du, ich sei eine Art lebende Datenbank? «
    Ich musste auch lachen. »Ja, schon. Irgendwie.«
    »Ah ja. Dann muss ich wohl mal überlegen. Mal sehen, der 20. September 1968 ?«
    »Genau.«
    »Und es war ein Freitag ?«
    »Ja. Zehn Minuten nach zwölf.«
    Petr lächelte und überlegte. »Nun, zunächst kann ich sagen, dass es der Tag vor meinem Geburtstag war. Es muss also der letzte Tag als Vierzehnjähriger gewesen sein .«
    Seine Augen funkelten. Aber dann gefror sein Lächeln.
     
    »Ach so«, sagte er leise. »Jetzt verstehe ich, was du meinst. Es war das erste Mal, dass ich Paul gesehen habe .«
    »Und?«
    »Vor dem Speisesaal seiner Schule. Daran habe ich schon lange nicht mehr gedacht. Er stand da und betrachtete irgendetwas auf dem Boden. Er war so schön .«
    »Ich wusste es !« , rief ich aus.
    »Was?«
    »Paul hat darüber in seinem Tagebuch berichtet. Du hast diese Sache erzählt, als Paul zum ersten Mal bei dir übernachtete. Allerdings war Paul sich nicht sicher, ob du ihn auf den Arm genommen hast oder nicht. Erinnerst du dich, Petr ?«
    Er nickte schweigend.
    »Deshalb wollte Paul in seinem Tagebuch nachsehen. Um zu erfahren, was er an jenem Tag gemacht hatte .«
    »Stimmt«, murmelte Petr.
    »Aber ich habe nur Pauls viertes Tagebuch gefunden, deshalb kann ich nicht nachsehen, was er dort auf dem Boden gefunden hatte. Kannst du dich erinnern, was es war ?«
    Petr holte tief Atem. »Ja, Jonas. Daran erinnere ich mich. Ich erinnere mich sehr gut. Obwohl ich schon lange nicht mehr
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