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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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daran gedacht habe. Paul hatte einen Hirschkäfer auf dem Asphalt vor dem Speisesaal gefunden. Einen großen Hirschkäfer. Aber irgendetwas war an ihm komisch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Ich glaube, es war einer der Flügel. Ja, genau. Der eine Flügel wirkte irgendwie schief. Deshalb beugte sich Paul hinunter, um ihn näher zu betrachten. Er ließ ihn auf seine Hand krabbeln, damit er den Flügel besser betrachten konnte. Den kaputten Flügel. Und während er so dastand mit seiner ausgestreckten Handfläche und den Hirschkäfer betrachtete, erhob sich dieser und flog auf und davon in Richtung der großen Bäume hinter dem Parkplatz .« Petr machte eine Pause und wirkte plötzlich traurig. »Er war so schön, Paul. Ich stand am Kiesweg - auf halbem Weg zum Parkplatz - und beobachtete ihn. Den Hirschkäfer konnte ich nicht sehen. Ich war zu weit weg. Ich sah nur Paul. Und seine Bewegungen. Wie er dastand und auf den Boden schaute, wie er dann in die Hocke ging, ohne sich mit den Händen abzustützen. Und wie er dann wieder hochkam. Er hielt seine Handfläche direkt unter seinem Gesicht. Es sah aus, als würde er seine Hand betrachten. Und plötzlich ging sein Blick gen Himmel, als ob er etwas suchte, was er nicht sehen konnte. Und die ganze Zeit, die er dem Hirschkäfer mit seinen Blicken folgte, hielt er die ausgestreckte Hand direkt an sein Gesicht .«
    Petr sah mich an. Und nun funkelten seine Augen wieder.
    »Du begreifst, das war ein -spirituelles-Erlebnis. Es war, als ob man einem magischen Tanz zusah, einer rituellen Zeremonie. Er war so schön .«
    Und dann begannen die Tränen, über seine Wange zu rollen.
     
    Es war spät am Abend, als Petr mich nach Hause fuhr.
    »Du kannst gerne wiederkommen«, sagte er, als wir aus seiner Einfahrt herausfuhren. »Wenn du möchtest. Es war ja nicht so schlimm, wie ich dachte. Es war sogar schön, mit dir darüber zu reden .«
    »Ich komme gerne wieder .«
    Er drehte das Autoradio auf, und der Klang einer einsamen Trompete vermischte sich mit dem Prasseln des Regens auf der Windschutzscheibe.
    »Magst du Jazz ?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Geht so. Daniel hat ja fast nur Jazzplatten. Ich habe also ganz schön viele gehört. Einiges ist richtig gut, finde ich .«
    »Daniel«, sagte Petr. »Paul hat immer von ihm erzählt. Das war der Jugendfreund deiner Mutter, oder ?«
    »Ja. Paul hat von ihm erzählt ?«
    »Naja, nicht viel. Aber manchmal. Er mochte ihn .«
    »Ja, ich weiß .«
    Petr lachte und drehte sich zu mir. »Gibt es irgendetwas, das du nicht weißt ?«
    Ich überlegte einen Moment.
    »Schon, eigentlich ziemlich viel. Ich weiß zum Beispiel nicht, woran Paul dachte, als er dort oben auf dem Gleis stand .«
    »Nein, das weiß keiner«, murmelte Petr.
    »Möchtest du es denn wissen, Jonas ?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, ich möchte es nicht wissen. Ich mag das Bild, das ich jetzt habe. Von Paul, meine ich. Ich glaube, ich möchte es so behalten .«

VIERUNDZWANZIG
    Petr hielt vor dem Parkplatz vor unserem Haus. Durch den Regen konnte ich erkennen, dass Licht in unserer Küche brannte.
    Einen Moment lang ließ er den Motor laufen. Er sah mich an. Dann stellte er ihn ab.
    Ich saß schweigend neben ihm, fühlte seine Blicke. »Woran denkst du, Klucina ?«
    Ich zuckte zusammen. »Was hast du gesagt ?« Petr lächelte. »Woran denkst du, Jonas ?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. An alles Mögliche. Nichts Spezielles.«
    Es goss nach wie vor in Strömen. Ich konnte sehen, dass irgendjemand an unserem Küchentisch saß, aber konnte nicht erkennen, ob es Mama oder Papa war.
    »Du bist doch nicht traurig ?« , wollte er wissen und berührte meinen Arm.
    »Traurig? Überhaupt nicht. Weshalb sollte ich? Ich bin überhaupt nicht traurig. Ich finde das Ganze nur merkwürdig. Fast wie in einem Traum .«
    »Wie meinst du das ?«
    Ich begegnete seinen dunklen Augen.
    »Ich weiß nicht genau. Es ist wie ... es wirkt, als würde alles ineinander fließen. Und ich bin nicht ganz sicher, was eigentlich passiert ist. Was Gedanke ist und was Wirklichkeit .«
    »Meinst du das, was Paul passiert ist? Oder was jetzt passiert?«
    Ich nickte. »Manchmal ist es, als ob Paul und ich ein und dieselbe Person wären. Als wären wir nur Einer. Und alles, was ihm passiert ist, passiert auch mir. Allerdings heute. Verstehst du, was ich meine ?«
    »Nicht richtig«, antwortete Petr. »Meinst du, das, was dir passiert, sei eine Wiederholung dessen, was
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