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Pas de deux

Pas de deux

Titel: Pas de deux
Autoren: Philippe Djian
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aus der Hand fiel. »Wo ist Henri-John?!« rief sie unvermittelt, wo ich doch nur in einer Ecke eingeschlafen war. Und wenn man mich dann entdeckt hatte, schüttelte sie mich, zwang mich stehenzubleiben und erklärte, sie könne mir nicht ständig nachlaufen. Mir war zwar nur halb bewußt, was da über mich hereinbrach, aber ich versuchte trotzdem, mich an sie zu schmiegen, um das Weitere zu vermeiden. Aber sie hielt mich auf Distanz und starrte mich ungläubig an.
    Bis zu ihrem Tod wird mich meine Mutter verwundert anschauen. Und wären uns hundert gemeinsame Jahre mehr beschieden, es würde nichts daran ändern. Sie kann nicht anders. Ich bin das große Rätsel ihres Lebens, die unbegreiflichste Sache, die ihr je passiert ist.
    »Ich rufe morgen früh Spaak an, wenn du es für ratsam hältst.«
    »Mama … Nicht mal bei einem schlichten Schnupfen würde ich den hinzuziehen!«
    »Na, ein Glück, daß er dich nicht hören kann …«
    Ich setzte mich mit einem lautlosen Seufzer ans andere Ende des Sofas. Während sie weiter ihre Streifen schnitt und daran erinnerte, daß Spaak mich von einer akuten Bauchfellentzündung geheilt hatte – das war in jenem schrecklichen Winter 1956 –, nahm ich unwillkürlich ihre Füße wieder in meine Hände. Ich war der einzige im Kreise dieser Familie, der scheu darauf hinwies, daß es noch andere Ärzte auf der Welt gab. Aber anscheinend galt in diesem Punkt als ausgemacht, daß Ignoranz und Undankbarkeit die beiden Zitzen waren, an denen sich Henri-John nährte.
    »Was schlägst du vor?«
    Ihre Frage hatte eine fast genießerische Intonation. Sie schaute mit zufriedener Miene auf ihr Werk, ein kleines Geflecht aus hellrotem Satin, das an ihren Fingern hing.
    »Glaubst du, sie wird sich von einem andern untersuchen lassen?« fügte sie mit unschuldigster Stimme hinzu.
     
    Ich war kein besonders guter Lehrer. Ich wählte meine Themen zwar sorgfältig aus, aber große Erfolge hatte ich nicht zu verzeichnen. Mein letzter Kurs über Liszt war ein glatter Reinfall gewesen, die meisten Schüler männlichen Geschlechts scherten sich einen Dreck um einen Typen, »der seinen Speer in den unendlichen Raum der Zukunft geschleudert hatte«, und um die klassische Musik im allgemeinen, vor allem, wenn sie mit einem so kümmerlichen Notengewicht einherging. Die Mädchen taten immerhin so, als hörten sie mir zu. Meine Klasse glich einer zerstörten Stadt voller Geister und Gerippe, die in einer lauwarmen Strömung vor sich hin dösten.
    Einige meiner Kollegen hatten, wenn sie durch die Gänge schritten, meist eine Handvoll Schüler um sich, die mehr wissen wollten. Meine hingegen holten sich blaue Flecken an den Tischen, so schnell verdrückten sie sich, kaum daß die Klingel ertönte. Ihre Gesichter waren mir nicht besonders vertraut. Sie kamen zwar zu mir, wenn es darum ging, mit Heissenbüttel zu verhandeln, vergaßen mich aber schleunigst, wenn sie erreicht hatten, was sie wollten. Ich erntete bestenfalls ein schwaches, verlegenes Lächeln, wenn sich unsere Blicke begegneten. Die höchste Belohnung, die sie mir für meine treuen Dienste zugestehen mochten, war anscheinend, tapfer an meinen Kursen teilzunehmen, auf die Gefahr hin, daß sie sich zu Tode langweilten. »Dir fallen sie wenigstens nicht auf den Wecker!« seufzte Hélène Folley, Geschichte der modernen Kunst.
    Hélène kam regelmäßig in mein Büro, um ein, zwei Zigaretten zu rauchen, während ich meine Zeitung las, und dann hörte ich sie atmen, hörte, wie sie ihre Beine übereinanderschlug und wieder entflocht, und dabei bombardierte sie das Zimmer mit langen blauen Strahlen, die reines Gift versprühten. Immer wieder waren die »kleinen Zicken« für ihre Verärgerung verantwortlich, »scheinheilige Luder«, denen sie jede Schlechtigkeit zutraute. Wenn ihr Kurs aus der Bahn geriet, richtete sich ihr Zorn nie gegen die Jungen: »Herr im Himmel! Das sind solche Dummerchen, denen kann man gar nicht böse sein!« Mehrmals hatte sie mir zu erklären versucht, was es mit dem Lächeln dieser kleinen Hexen oder der besonderen Art, wie sie einen anstarrten, auf sich hatte – und dabei betont, ich könne das nicht verstehen, nur eine Frau sei in der Lage, solche Dinge zu erfassen. Ich widersprach ihr nicht. Ich schaute auf die roten Flecken, die der Groll rings um ihre Kehle produzierte.
    Ich mußte meine Phantasie schon gehörig anstrengen, um mir die Atmosphäre vorzustellen, die in ihren Kursen herrschte. Manchmal dachte ich daran,
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