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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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Tempel; das elektrische Zifferblatt zeigte Viertel vor zwölf.
    »Die Nacht geht nicht weiter«, sagte er sich.
    Er marschierte bis zu den Boulevards hinauf. Dort warfen die Kandelaber einander ihre grell weißen Lichtbündel entgegen, und durchscheinende Werbetafeln, auf welche die Elektrizität in feuriger Schrift Reklamesprüche schrieb, funkelten an den Siegessäulen.
    Michel schloß die Augen; er tauchte in einer gewaltigen Menschenmenge unter, die von den Theatern ausgespien wurde; er kam auf die Place de l’Opéra und sah diese ganze elegante und verwöhnte Meute der Reichen, die in ihrem Kaschmir und ihren Pelzen der Kälte trotzten; er wich der langen Schlange der Gasfahrzeuge aus und entwischte durch die Rue Lafayette.
    Vor ihm lag ein gerader Weg von eineinhalb Meilen.
    »Vor all diesen Leuten fliehen«, sagte er sich.
    Und er stürzte los, schleppte sich, fiel immer wieder hin, stand verletzt, aber ohne jedes Gefühl von Schmerz wieder auf; eine Kraft außerhalb seiner selbst hielt ihn aufrecht.
    Je weiter er vorwärtskam, desto dichter wurden Stille und Verlassenheit um ihn herum. Doch in der Ferne sah er noch so etwas wie ein riesiges Licht; er vernahm einen fürchterlichen Krach, der mit nichts zu vergleichen war.
    Trotzdem ging er weiter; schließlich geriet er mitten in einen grauenhaften, betäubenden Lärm und kam zu einem riesigen Saal, in dem leicht zehntausend Menschen Platz fanden und auf dessen Giebelseite in Flammenbuchstaben folgende Worte zu lesen standen:
     
    ELEKTRISCHES KONZERT.
     
    Ja! Elektrisches Konzert! Und was für Instrumente! Nach einem ungarischen Verfahren spielten zweihundert Klaviere, die mit Hilfe von elektrischem Strom miteinander verbunden waren, unter der Hand eines einzigen Künstlers zusammen! Ein Klavier mit der Kraft von zweihundert Klavieren!
    »Fort von hier! Fort!« schrie der Unglückliche, verfolgt von diesem hartnäckigen Dämon. »Weg aus Paris! Weg aus Paris, dann werde ich vielleicht Ruhe finden!«
    Und er schleppte sich auf den Knien weiter! Nach zwei Stunden des Kampfes gegen seine eigene Schwäche erreichte er das Becken von La Villette, hier verlief er sich, und während er glaubte, in Richtung Porte d’Aubervilliers zu gehen, schlug er die endlose Rue Saint-Maur ein; eine Stunde später bog er um die Ecke des Jugendgefängnisses, an der Kreuzung zur Rue de la Roquette.
    Hier bot sich ihm ein gräßliches Schauspiel! Ein Schafott wurde gerade gebaut! Für Tagesanbruch war eine Hinrichtung in Vorbereitung.
    Das Gerüst war unter den Händen der singenden Arbeiter fast vollendet.
    Michel wollte vor diesem Anblick fliehen, doch er stieß gegen eine offene Kiste. Als er sich wieder erhob, sah er eine elektrische Batterie.
    Sein Verstand begann wieder zu arbeiten! Nun begriff er. Es wurde nicht mehr geköpft. Heute vernichtete man durch einen Stromschlag. Damit äffte man die himmlische Vergeltung besser nach.
    Michel stieß einen letzten Schrei aus und verschwand.
    Von der Kirche Sainte-Marguerite schlug es vier.
Siebzehntes Kapitel
Et in pulverem reverteris
    Was wurde während der restlichen Nacht aus dem Unglücklichen? Wohin lenkte der Zufall seine Schritte? Lief er ziellos umher, ohne diese unselige Hauptstadt, dieses verfluchte Paris hinter sich lassen zu können? Unlösbare Fragen!
    Es ist anzunehmen, daß er unaufhörlich in diesen zahllosen Straßen herumirrte, die rund um den Friedhof Père-Lachaise verlaufen, denn der alte Totenacker lag mitten in den Wohnbezirken. Die Stadt erstreckte sich im Osten bis zu den Bollwerken von Aubervilliers und Romainville.
    Wie dem auch sei, als die Wintersonne über dieser weißen Stadt aufging, stand Michel auf dem Friedhof.
    Er hatte nicht mehr die Kraft, an Lucy zu denken; seine Sinne erstarrten in der Kälte; er glich einem Gespenst, das zwischen den Gräbern umherstreift und nicht einem Fremden, denn er fühlte sich zu Hause.
    Er ging den großen Weg hoch und bog dann nach rechts in die feuchten Alleen des unteren Friedhofs ein; die schneebeladenen Bäume vergossen über den herrlichen Gräbern Tränen; nur die senkrechten Steine, die der Schnee verschont hatte, zeigten dem Blick die Namen der Toten.
    Bald schon tauchte das verfallene Grabmal von Héloïse und Abaelard auf; drei Säulen, die einen beschädigten Querbalken trugen, standen noch aufrecht, wie die Grecostasis des Forum Romanum.
    Michel schaute um sich, ohne richtig zu sehen; da er aber ein Stück weiter die Namen Cherubini, Habeneck, Chopin,
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