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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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Gegenwart anzuschneiden.
    »Wie sehr ich Sie eines Tages lieben werde!« sagte er.
    Darin lag eine Nuance, die Lucy sehr wohl spürte, eine Frage der Zeit, an die man nicht rühren durfte.
    Dann gab sich der junge Mann vollkommen seiner Poesie hin; er wußte, daß er angehört, verstanden wurde, und vertraute sich ganz und gar diesem jungen Mädchen an! In ihrer Nähe war er wirklich er selbst; er schrieb jedoch keine Verse für Lucy, war nicht fähig dazu, weil er sie in der Wirklichkeit zu sehr liebte; er begriff weder die Verbindung von Liebe und Reim, noch daß man seine Gefühle den Anforderungen einer Zäsur unterwerfen konnte.
    Ohne daß er sich dessen bewußt wurde, nahm seine Poesie jedoch seine teuersten Gedanken in sich auf, und wenn er Lucy irgendwelche Verse aufsagte, dann hörte Lucy ihm zu, als stammten diese von ihr selbst; sie schienen immer auf irgendeine geheime Frage zu antworten, die sie an niemanden zu stellen wagte.
    Eines Abends sagte Michel, während er sie fest anschaute:
    »Der Tag kommt.«
    »Welcher Tag?« fragte das Mädchen.
    »Der Tag, an dem ich Sie lieben werde.«
    »Ah!« meinte Lucy.
    Und später wiederholte er von Zeit zu Zeit:
    »Der Tag rückt näher.«
    Schließlich, an einem schönen Abend im August:
    »Er ist da«, sagte er und nahm sie bei der Hand.
    »Der Tag, an dem Sie mich lieben werden«, flüsterte das Mädchen.
    »Der Tag, an dem ich Sie liebe«, antwortete Michel.
    Als Onkel Huguenin und Monsieur Richelot bemerkten, daß die jungen Leute auf dieser Seite des Buches angelangt waren, sagten sie zu ihnen:
    »Genug gelesen, Kinder, schließt den Band, und du, Michel, arbeite für zwei.«
    Ein anderes Verlobungsfest gab es nicht.
    Es ist verständlich, daß Michel in dieser Situation nichts von seinen Verdrießlichkeiten erzählte. Wenn er gefragt wurde, wie es im
Großen Dramatischen Depot
denn so ginge, antwortete er ausweichend. Es sei nicht optimal; man müsse sich eingewöhnen; aber das werde er schon schaffen.
    Die Alten machten sich darüber keine weiteren Gedanken; Lucy erriet Michels Qualen und ermutigte ihn, so gut sie konnte. Aber sie tat es mit einer gewissen Zurückhaltung, denn sie fühlte sich in der ganzen Angelegenheit natürlich als Betroffene.
    Wie tief war also die Mutlosigkeit, die Verzweiflung des jungen Mannes, als er sich wieder der Gnade des Schicksals ausgeliefert sah! Er durchlebte einen schrecklichen Augenblick, in dem sich das Leben in seiner wirklichen Gestalt zeigte, mit seiner Mühsal, seinen Enttäuschungen, seiner Ironie. Er fühlte sich ärmer, nutzloser, ausgestoßener als je zuvor.
    »Was habe ich bloß auf dieser Welt zu suchen«, sagte er sich, »niemand hat mich eingeladen! Es ist besser, ich gehe!«
    Der Gedanke an Lucy hielt ihn zurück.
    Er lief zu Quinsonnas; dieser packte gerade seinen Koffer, einen kleinen Koffer, den eine Reisetasche von oben herab betrachtet hätte.
    Michel berichtete von seinem Abenteuer.
    »Das erstaunt mich nicht«, antwortete Quinsonnas; »du bist nicht für die Gemeinschaftsarbeit im großen Stil gebaut. Was wirst du tun?«
    »Allein arbeiten.«
    »Aha!« antwortete der Pianist. »Du hast also Mut?«
    »Das werden wir noch sehen. Aber wohin gehst du, Quinsonnas?«
    »Ich verreise.«
    »Du gehst weg aus Paris?«
    »Ja, und ich tue noch etwas Besseres. Denn nicht in Frankreich werden die französischen Berühmtheiten gemacht; man importiert ein ausländisches Produkt; ich werde mich importieren lassen.«
    »Aber wo gehst du hin?«
    »Nach Deutschland; um diese Biertrinker und Pfeifenraucher in Erstaunen zu versetzen. Ich werde von mir reden machen!«
    »Das ist also dein letzter Ausweg?«
    »Ja! Aber sprechen wir von dir; du wirst kämpfen, das ist gut so: hast du Geld?«
    »Ein paar hundert Franc.«
    »Das ist wenig; nun, ich überlasse dir jedenfalls meine Wohnung; sie ist für drei Monate im voraus bezahlt.«
    »Aber …«
    »Ich wäre der Verlierer, wenn du sie nicht nimmst. Außerdem habe ich noch tausend Franc Ersparnisse; laß uns teilen.«
    »Niemals«, antwortete Michel.
    »Wie dumm du bist, mein Sohn, eigentlich müßte ich dir alles geben, und ich teile nur! Also schulde ich dir noch fünfhundert Franc.«
    »Quinsonnas«, sagte Michel mit Tränen in den Augen.
    »Du weinst! Gut so! Du hast recht! Das ist die passende Inszenierung für eine Abreise! Sei beruhigt! Ich komme wieder! Also dann! Laß dich umarmen!«
    Michel warf sich Quinsonnas in die Arme, der sich geschworen hatte, keine Rührung
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