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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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Gewohnheiten der Angestellten über den Haufen, und nur allzu leicht konnte es geschehen, daß sie einem Stutzer die Ausdrucksweise eines Halunken in den Mund legten. Das jedoch bedeutete einen Übergriff auf das Spezialgebiet des Konservatoriums für Gaunersprache.
    Man zählte eine gewisse Anzahl von Angestellten für Meuchelmord, Totschlag, Giftmischerei und Vergewaltigung; unter diesen letzten war einer, der seinesgleichen suchte, wenn es darum ging, den Vorhang im richtigen Augenblick fallen zu lassen; eine Sekunde Verspätung, und der Schauspieler oder die Schauspielerin lief Gefahr, ernsthaft in Verlegenheit zu geraten.
    Dieser Beamte, übrigens ein rechtschaffener Kerl von fünfzig Jahren, Familienvater, ehrbar und geehrt, mit ungefähr zwanzigtausend Franc Gehalt, schrieb seit dreißig Jahren mit unvergleichlicher Fingerfertigkeit diese Vergewaltigungsszene um.
    Bei seinem Eintritt in diese Abteilung wurde Michel mit der vollständigen Umarbeitung des Schauspiels
Amazampo oder die Entdeckung der Chinarinde
betraut, einem wichtigen Werk, das 1827 erschienen war.
    Das war keine geringe Arbeit; es mußte ein grundlegend modernes Stück daraus werden; die Entdeckung der Chinarinde jedoch war tiefste Vergangenheit.
    Die Beamten, denen diese Anpassungsarbeit anvertraut war, schwitzten Blut und Wasser, denn das Werk war in erdenklich schlechtem Zustand. Seine Effekte waren so abgenutzt, seine Fäden so vermodert, sein Gebälk so wurmstichig geworden durch den langen Aufenthalt in den Magazinen! Genausogut hätte man ein neues Stück schreiben können; aber die Anordnungen der Geschäftsleitung waren eindeutig: Die Regierung wollte dem Publikum diese wichtige Entdeckung zu einem Zeitpunkt in Erinnerung rufen, da Paris vom Wechselfieber heimgesucht wurde. Das Stück mußte also dem aktuellen Geschmack angeglichen werden.
    Das Talent der Beamten siegte. Es war ein Kraftakt, aber den armen Michel traf keinerlei Verdienst an diesem Meisterwerk; nicht den kleinsten Einfall hatte er beigesteuert, hatte es nicht verstanden, die Situation zu nutzen; er war in solchen Dingen eine vollkommene Niete. Man befand, daß er unfähig sei.
    Ein Bericht an den Direktor wurde verfaßt, er gereichte ihm nicht zum Vorteil, und nach einem dramatischen Monat mußte er in die dritte Abteilung versetzt werden.
    »Ich tauge zu nichts«, sagte sich der junge Mann; »ich besitze weder Phantasie noch Geist! Aber was ist das auch für eine sonderbare Art, fürs Theater zu arbeiten!«
    Und die Verzweiflung überwältigte ihn, während er diese Organisation verfluchte; dabei entging ihm, daß die Gemeinschaftsarbeit im 19. Jahrhundert diese ganze Einrichtung des
Großen Dramatischen Depots
bereits im Keim enthielt.
    Es war eine Gemeinschaftsarbeit zur hundertsten Potenz erhoben.
    Michel fiel also vom Schauspiel ins Vaudeville hinunter. Hier waren die lustigsten Männer Frankreichs versammelt; der Kommis für Couplets wetteiferte mit dem Kommis für Pointen; die Sparte für schlüpfrige Situationen und anzügliche Bemerkungen wurde von einem liebenswürdigen Burschen geleitet. Der Fachbereich für Kalauer lief wie geschmiert.
    Darüber hinaus gab es ein zentrales Büro für Geistesblitze, spitze Antworten und Gedankensprünge; es erfüllte alle Nachfragen aus den fünf Abteilungen; die Geschäftsleitung gestattete die Verwendung eines komischen Ausdrucks nur dann, wenn er seit mindestens achtzehn Monaten nicht mehr gebraucht worden war; nach ihren Vorschriften arbeitete man unablässig an der Durchforstung des Wörterbuchs und vermerkte alle Sätze, Redewendungen und Wörter, die, aus ihrem alltäglichen Zusammenhang gerissen, für Überraschung sorgen konnten; bei der letzten Bestandsaufnahme der Gesellschaft legte sie in ihrem Bericht ein Kapital von fünfundsiebzigtausend Kalauern vor, ein Viertel davon vollkommen neu, und der Rest noch durchaus vorzeigbar. Für die ersteren war ein höherer Preis zu entrichten.
    Dank dieser Sparsamkeit, dieser Rücklagen, dieses Einvernehmens waren die Produkte der dritten Abteilung von ausgezeichneter Qualität.
    Als sich der geringe Erfolg Michels in den höheren Abteilungen herumsprach, bemühte man sich, ihm einen leichten Anteil bei der Anfertigung des Vaudevilles zu sichern; man verlangte weder von ihm, einen Einfall beizusteuern, noch einen Witz zu erfinden; man lieferte ihm die Situation, und er brauchte sie nur auszuarbeiten.
    Es ging um einen Akt für das Théâtre du Palais-Royal; dieser beruhte auf
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