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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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zu zeigen, und der nun davonstürzte, um seinen Schwur nicht zu brechen.
    Michel blieb allein zurück. Zunächst beschloß er, niemanden von seiner veränderten Lage zu unterrichten, weder seinen Onkel noch Lucys Großvater. Es war unnötig, ihnen zusätzliche Sorgen zu machen.
    »Ich werde arbeiten, schreiben«, wiederholte er sich, um neue Kräfte zu sammeln; auch andere haben gekämpft, an die ein undankbares Jahrhundert nicht glauben wollte. Wir werden ja sehen!«
    Am nächsten Tag ließ er sein schmales Gepäck in das Zimmer seines Freundes bringen und machte sich an die Arbeit.
    Er wollte ein Buch mit vollkommen unnützen, aber vollkommen schönen Gedichten veröffentlichen, und er arbeitete ohne Unterlaß, aß fast nichts, dachte nach und träumte, und schlief nur, um wieder zu träumen.
    Von der Familie Boutardin hörte er nichts mehr; er vermied es, durch die Straßen zu gehen, die ihr gehörten, er bildete sich ein, sie wolle ihn wieder zurückholen! Sein Vormund dachte kaum an ihn; er war von einem Dummkopf befreit und war froh darüber.
    Wenn er sein Zimmer verließ, dann bestand sein einziges Glück darin, Monsieur Richelot zu besuchen. Aus keinem anderen Grund ging er aus; er kam, um in der Betrachtung des jungen Mädchens neue Kräfte zu sammeln und um aus dieser unerschöpflichen Quelle der Poesie zu schöpfen! Wie sehr er liebte! Und wie sehr, soll man’s gestehen, wurde er geliebt! Diese Liebe erfüllte sein Dasein, und er begriff nicht, daß man noch etwas anderes zum Leben brauchte.
    Indessen wurden seine Geldmittel nach und nach knapper, doch er verlor keinen Gedanken daran.
    Ein Besuch, den er Mitte Oktober dem alten Professor abstattete, bedrückte ihn sehr; Lucy sah traurig aus, und er wollte den Grund für ihre Traurigkeit erfahren.

    In der
Bildungskreditbank
hatte der Unterricht wieder begonnen; die Rhetorik-Klasse war zwar nicht abgeschafft worden, aber es hatte nicht viel gefehlt; Monsieur Richelot hatte nur einen Schüler, einen einzigen! Was sollte aus dem alten, mittellosen Professor werden, wenn auch dieser nicht mehr kam! Das aber konnte von einem Tag auf den anderen eintreten, und dann würde man den alten Rhetorik-Professor verabschieden.
    »Ich spreche nicht für mich«, sagte Lucy, »aber ich mache mir Sorgen um meinen armen Großvater!«
    »Werde ich dann nicht da sein?« antwortete Michel.
    Doch er sprach diese Worte mit so wenig Überzeugung aus, daß Lucy es nicht wagte, ihn anzublicken.
    Michel spürte, wie ihm die Röte der Ohnmacht ins Gesicht stieg.
    Als er allein war, sagte er sich: »Ich habe versprochen, da zu sein; könnte ich doch nur mein Versprechen halten! Los! An die Arbeit!«
    Und er ging in sein Zimmer zurück.
    Viele Tage verstrichen; viele schöne Gedanken reiften im Gehirn des jungen Mannes heran und nahmen unter seiner Feder eine bezaubernde Gestalt an. Endlich war sein Buch abgeschlossen, wenn ein Buch dieser Art jemals abgeschlossen ist. Er gab seiner Gedichtsammlung den Titel
Die Hoffnungen,
und man mußte schon ziemlich abgehärtet sein, um noch zu hoffen.
    Dann begann Michel, von einem Verlag zum nächsten zu laufen; es ist überflüssig, die Szene zu beschreiben, die er im voraus erwartete und die jeder seiner sinnlosen Versuche nach sich zog; kein einziger Verleger wollte sein Buch auch nur lesen; auf diese Weise verlor er sein Papier, seine Tinte und seine
Hoffnungen.
    Er kam verzweifelt zurück. Seine Ersparnisse neigten sich ihrem Ende zu; er dachte an seinen Professor; er suchte nach einer handwerklichen Arbeit; die Maschinen ersetzten überall auf lohnende Weise den Menschen; keine Geldquellen mehr; in einer anderen Epoche hätte er seine Haut an irgendeinen Sohn aus vornehmer Familie verkauft, der zu den Waffen gerufen wurde; aber diese Art von Handel gab es nicht mehr.
    Der Monat Dezember kam, der Monat aller Fälligkeiten, kalt, traurig, düster, der Monat, der das Jahr beendet, ohne die Schmerzen zu beenden, dieser Monat, der für alle Wesen nahezu überflüssig ist. Das schrecklichste Wort der französischen Sprache, das Wort Elend stand auf Michels Stirn geschrieben. Seine Kleider wurden gelb und fielen langsam an ihm herunter wie die Blätter der Bäume zu Beginn des Winters, und es gab keinen Frühling, der sie später wieder nachwachsen lassen würde.
    Er schämte sich vor sich selbst; seine Besuche beim Professor wurden seltener, auch die bei seinem Onkel; man sah ihm das Elend an; er redete sich auf wichtige Arbeiten hinaus, sogar
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