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Paris im 20. Jahrhundert

Paris im 20. Jahrhundert

Titel: Paris im 20. Jahrhundert
Autoren: Jules Verne
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wartet! Es ist so lange her, daß ich sie gesehen habe!«
    Dann kam ihm eine Überlegung in den Sinn.
    »Ich will auf keinen Fall während des Abendessens auftauchen!« dachte er. »Das würde sich nicht schicken! Sie müßten mich dann einladen! Wie spät ist es denn?«
    »Acht Uhr«, antwortete die Kirche Saint-Nicolas, deren klar umrissene Turmspitze in die Luft ragte.
    »Ach!« fuhr der junge Mann fort. »Um diese Zeit haben alle schon gegessen!«
    Er steuerte auf die Nummer 49 zu und klopfte leise an die Haustür, um die Bewohner zu überraschen.
    Die Tür öffnete sich. Er war schon im Begriff, die Treppe hinaufzustürzen, da hielt ihn der Hausmeister zurück.
    »Wo wollen Sie hin?« fragte dieser und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    »Zu Monsieur Richelot.«
    »Der ist nicht hier.«
    »Was soll das heißen! Der ist nicht hier!«
    »Er ist nicht mehr hier. Wenn Ihnen das besser gefällt.«
    »Monsieur Richelot wohnt nicht mehr hier?«
    »Nein! Fortgegangen!«
    »Fortgegangen?«
    »Vor die Tür gesetzt!«
    »Vor die Tür«, rief Michel.
    »Das war auch einer dieser Sonderlinge, die nie einen Sou haben, wenn die Miete fällig ist. Er wurde gepfändet.«
    »Gepfändet«, sagte Michel und zitterte an allen Gliedern.
    »Gepfändet und hinausgeworfen.«
    »Wo ist er hin?« fragte der junge Mann.
    »Das ist mir unbekannt«, antwortete der Regierungsbedienstete, der in diesem Viertel bloß der neunten Klasse angehörte.
    Plötzlich fand sich Michel auf der Straße wieder, ohne genau zu wissen, wie er dahin gekommen war; die Haare standen ihm zu Berge; er fühlte, wie sein Kopf sich drehte, und sah furchterregend aus.
    »Gepfändet«, wiederholte er im Davonlaufen. »Verjagt! Also ist ihm kalt, also hat er Hunger.«
    Und als der Unglückliche daran dachte, daß nun alles, was er liebte, wahrscheinlich litt, verspürte auch er wieder jene Schmerzen von Hunger und Kälte, die er vergessen hatte!
    »Wo sind sie! Wovon leben sie! Der Großvater hatte nichts, er ist bestimmt aus dem Gymnasium verwiesen worden! Sein Schüler hat ihn im Stich gelassen, dieser Feigling! Dieser Schuft! Wenn ich ihn nur kennen würde!«
    »Wo sind sie?« wiederholte er ohne Unterlaß. »Wo sind sie?« fragte er vorübereilende Passanten, die ihn für einen Verrückten hielten.
    »Vielleicht hat sie geglaubt, ich ließe sie in ihrem Elend allein.«
    Bei diesem Gedanken spürte er, wie seine Knie nachgaben; beinahe wäre er auf den harten Schnee gefallen; mit verzweifelter Anstrengung hielt er sich aufrecht; er konnte nicht gehen: er rannte; ein Übermaß an Schmerz ruft solche Anomalien hervor.
    Er rannte immer weiter, ohne Ziel und ohne Gedanken; mit einem Mal erkannte er die Gebäude der
Bildungskreditbank!
Voller Abscheu lief er davon.
    »Ach!« rief er. »Die Wissenschaft! Die Industrie!«
    Er kehrte um. Eine Stunde lang irrte er inmitten all der Armenhäuser umher, die in diesem Teil von Paris zusammengepfercht sind, dem Heim für Kranke Kinder, für Junge Blinde, dem Krankenhaus Marie-Thérèse, dem Findelhaus, dem Entbindungsheim, den Krankenhäusern du Midi, de la Rochefoucauld, Cochin, Lourcine; dieser Stadtteil des Leidens ließ ihn nicht entkommen.
    »Ich will doch nicht da hinein!« sagte er sich, als hätte ihn eine Kraft vorwärts getrieben.
    Plötzlich stieß er gegen die Mauern des Friedhofs von Montparnasse.
    »Dann schon lieber hierher«, dachte er.
    Wie ein Betrunkener streifte er um diesen Totenacker.
    Schließlich erreichte er, ohne es zu bemerken, den Boulevard de Sébastopol am linken Flußufer, kam an der Sorbonne vorüber, wo Monsieur Flourens nach wie vor mit größtem Erfolg seine Vorlesung hielt, immer noch feurig, immer noch jung.
    Endlich stand der arme Wahnsinnige auf dem Pont Saint-Michel; der scheußliche Brunnen, ganz unter einer Eiskruste versteckt, ganz unsichtbar, zeigte sich so in seiner günstigsten Gestalt.
    Michel schleppte sich dahin, folgte dem Quai des Augustins bis zum Pont-Neuf, und dort begann er mit wirrem Blick auf die Seine zu starren.
    »Schlechtes Wetter für die Verzweiflung!« schrie er. »Man kann sich nicht einmal ins Wasser stürzen.«
    Tatsächlich war der Fluß vollkommen zugefroren; Fahrzeuge konnten ihn gefahrlos überqueren; zahlreiche Verkaufsstände ließen sich tagsüber auf ihm nieder, und hier und da wurden große Freudenfeuer entzündet.
    Die herrlichen Bauarbeiten des Seine-Staudammes verschwanden unter den Schneemassen; dieser war die Verwirklichung einer Idee Aragos aus dem 19.
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