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Parasiten

Parasiten

Titel: Parasiten
Autoren: Marina Heib
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zu dem Zimmer, in dem der
Kunde wartete. Dann ging er zurück zum Pokern.
    Katya kannte den Kunden nicht, war aber froh, dass er jung und
sauber aussah und gesund schien. Sie wollte sich schon ausziehen, als er sie
stoppte.
    »Wir werden jetzt hier verschwinden, du und ich. Ich bringe dich
nach Rumänien zu deinen Eltern zurück. Sie warten sehnsüchtig auf dich.«
    Katya starrte ihn fassungslos an. Was redete dieser Typ da?
    Der Typ grinste. »Deinen Jurij habe ich bestochen. Der guckt nicht
vom Pokern hoch, wenn wir durch den Hinterausgang verschwinden. Falls doch,
werde ich ihn überzeugen, wieder wegzusehen.« Er öffnete seine Jacke. Dort
lugte ein Schulterhalfter mit einer Pistole hervor.
    Langsam dämmerte Katya, dass der Typ es ernst meinte. »Bist du ein
Bulle?«
    Der Typ lachte laut. »Ich? Wohl kaum. Ich bin ein Bote und soll dir
schöne Grüße vom dem Scheiß-Supergirl aus Moldawien ausrichten. Sie hat dir
irgendwann versprochen, dass sie dich rettet. Nun. Ich bin in ihrem Auftrag
hier. Ich heiße übrigens Vadim. Können wir los?«
    »Sofia«, flüsterte Katya.

 
    Hamburg.
    Sofia saß in ihrem dünnen Bademantel im Garten der
geschlossenen Psychiatrie auf einer Bank. Der Pfleger war kurz abgelenkt
gewesen, als sie sich nach dem Tee hinausgeschlichen hatte. Sie mochte den
Pfleger nicht, er war dumm und roch immer nach Schweiß. Sofia widerte es an,
wenn er sie anfasste. Sie wollte überhaupt nicht mehr von einem Mann angefasst
werden. Sofia ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Um sie herum Mauern
und die tristen Silhouetten entlaubter Bäume im bleigrauen Gegenlicht. Der Himmel
drückte schwer auf die Stadt, es begann zu schneien. Sofia fror entsetzlich,
aber sie würde nicht hineingehen. Gestern war sie operiert worden. Die Ärztin
hatte gesagt, dass man alle Insekten hatte entfernen können. Aber Sofia spürte,
dass ein paar übrig geblieben waren. Sie spürte es genau. Da waren noch Maden
in ihrem Unterleib. Sie würde sie nicht fangen können, das wusste sie. Außerdem
hatte sie eingesehen, dass das Schlitzen nicht gut für sie war. Sie öffnete
damit ja nur neue Einfallstore. Deswegen war sie auf eine neue Idee gekommen.
Sie würde den verbliebenen Rest ganz einfach erfrieren lassen. Insekten konnten
einen harten Winter nicht überleben.
    Sofia öffnete ihren Bademantel noch ein wenig mehr. Ihre Zähne
klapperten, und ihre Finger waren schon bläulich. Aber das Frieren machte ihr
nichts aus. Sie sah nach oben und schaute den Schneeflocken beim Tanzen zu. Es
waren schöne, dicke Schneeflocken, die wild im Wind herumwirbelten. Sofia
liebte den Schnee. Sie dachte an ihre Zeit in Moskau. Als sie noch mit Danylo
zusammen war. Sofia schaute den Schneeflocken zu und versank in ihre Erinnerung
an einen Winter vor vielen Jahren.

 
    EPILOG

 
    19. Dezember 1992
Moskau.
    Es schneit. Es schneit dicke Flocken, die weich und
lautlos herniederschweben und das Grau des Moskauer Mittags immer mehr in ein
weiches Weiß wandeln. Die gezuckerte Stadt gefriert allmählich zu einem
impressionistischen Gemälde. Ganz in der Nähe ertönt das Geläut der
Basilius-Kathedrale. Der vorweihnachtliche Winterzauber besänftigt die Gemüter der
Menschen. Alles wirkt friedlich und rein. Die Schneeflocken sind Sendboten des
Himmels, jede einzelne ist göttlichen Ursprungs. Mit philosophischer Stille und
milder Macht bedecken sie die Welt und gleichen alles an, sodass es für eine
kurze Zeit nichts Hässliches und keine Ungerechtigkeit mehr zu geben scheint.
    Es ist kalt. Bitterkalt. Die Kälte kneift in die Nase und kriecht in
die Knochen. Da verwundern doch die beiden kleinen Kinder, die so gar nicht
nach drinnen wollen, wo das Feuer im Bullerofen, das wegen der kaputten Heizung
angezündet wurde, ihre durchnässten Wollhandschuhe trocknen würde, die dann ein
bisschen riechen wie verschimmeltes Brot.
    Da stehen sie auf dem kopfsteingepflasterten Hof vor dem
Schulgebäude und spielen. Das Gebäude sieht aus wie nach einem
Schrapnell-Angriff. Schlimmer als ärmlich. Der ehemals rosafarbene Putz
blättert in dicken Scheiben von der Fassade. Die Kinder spielen
selbstvergessen. Als gäbe es keine Kälte und keine Pausenglocke, die sie zurück
zum Unterricht ruft. Andererseits: Was erwartet sie schon, wenn sie
hineingehen? Es ist ein bisschen wärmer. Aber sie müssen Leistung abliefern.
Bloß nicht versagen. Besser werden, immer besser. Besser als der andere. Besser
als alle anderen. Nicht, dass sie das nicht können.
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