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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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meine ich wirklich politisch – darzustellen. Es wird mit Phrasen aus der Politik um sich geworfen, als musste man im Osten fürchten, wegen jeder Lächerlichkeit hinter Gittern zu landen. Die wirtschaftlichen Gründe werden dagegen niemals erwähnt. Dabei sind es oft die einzigen. Aber wieso nicht? Gehören sie nicht ebenfalls zur Politik? Die Pseudo-Verfolgungen glaubt sowieso keiner in Zirndorf. Die deutschen Beamten, die sich tagtäglich diese wilden Stories anhören müssen, wissen bestimmt, was wahr ist und was nicht. Sie kennen die jeweiligen Länder und ihre politische Situation nur zu gut. Das ist ja schließlich ihr Job.
    Es wäre also eine Farce, zu behaupten, dass wir von der Polizei verfolgt worden sind, weil Mama nicht in der Partei war. Sie wissen genau, dass die tschechoslowakische Polizei so peinlich harmlose Fische, wie wir es sind, niemals verfolgen würde, nur weil meine Mutter keine eingeschriebene Kommunistin ist. Das kann doch die Chance, Asyl zu bekommen, nur verringern. Ich muss beinahe lachen, wenn ich die tschechischen Hausfrauen erzählen höre, wie sie durch einen Kugelhagel und brennende Häuser um ihr Leben gerannt sind. A la Tunnelflucht der Familie Hejduk. Dabei wirken sie äußerst unglaubwürdig. Etwa so, als würde meine Mutter die Aerodynamik eines Flugkörpers erklären. Auf Japanisch. Sie erfinden die ausgeklügeltsten Geschichten, bunte Auswüchse ihrer Fantasie, von schlimmen Folterungen und Stasimethoden bis hin zu spektakulären Verfolgungen über die Grenze, bei denen sie nur knapp dem Tod entkommen sind. Dass es nur so kracht.
    Mit dem Brief in der einen Hand und meinem weißen Handtäschchen aus Plastik in der anderen, durchschreite ich den Eingang des Zirndorfer Gebäudes. An der Pforte stehen viele uniformierte Männer, die für Ordnung und tadellose Organisation sorgen. Außerhalb des Gebäudes drängeln sich unzählige Asylanten aller Nationalitäten und Hautfarben. Mutter steht dazwischen. Sie wurde natürlich nicht durchgelassen, wie denn auch? Keine Vorladung heißt keine Berechtigung, angehört zu werden, selbst dann nicht, wenn das eigene Kind zum Verhör soll. Sie steht da, von den Massen hin und her geschoben, und schaut mir nach, solange sie kann. Es bricht mir das Herz. Ihr Gesicht glänzt. Sie weint.
    Die verglaste Wand spiegelt die Sonne. Mutter sieht wahrscheinlich nicht viel, am wenigsten mich, obwohl sie in meine Richtung starrt. Vielleicht weint sie wegen des grellen Lichts … ich weiß es nicht. Die Sonne ist heute so kräftig, man kann kaum glauben, dass es kurz vor Weihnachten ist. Auch ich heule wie ein Schlosshund, als ich sie so allein in der Menge stehen sehe. Meine Beine verweigern mir den Dienst, sie entscheiden sich, nicht das zu tun, was mein Kopf befiehlt. Ich suche einen Stuhl oder eine Bank, um mich zu setzen, kurz auszuruhen, finde aber natürlich nichts dergleichen, stattdessen nur die Hitze, den Lärm der verschiedensten Sprachen, die Enge, die stickige Luft und vor allem: die Einsamkeit. Ich bleibe stehen, rühre mich nicht, sammele mich. Einsamkeit unter so vielen Menschen!
    Ich werde in einen Warteraum gebracht, wie man sie von den Landrats- und anderen Ämtern kennt. Vor mir sehe ich mindestens fünfzig Ausländer mit unzähligen Unterlagen in der Hand schwitzen, hinter mir weitere hundert. Ich trage nur die Vorladung und meinen vorläufigen blauen Asylpass bei mir, der wegen des weißen Plastikhandtäschchens runde Ecken bekommen hat. Die Mode geht vor. Der Direktor unseres Gymnasiums in Pùerov hätte sich aufgeregt. Gott sei Dank ist er weit weg. Mein Pass geht ihn nichts an!
    Nach circa zwei Stunden darf ich mich vom Fleck bewegen und in ein Büro eintreten. Was macht Mutter wohl? So lang ist es her, dass ich sie zuletzt hinter der Glasscheibe gesehen habe. Wie fühlt sie sich? Sicherlich einsam, so wie ich. Sie tut mir leid. Sie tut mir so entsetzlich leid. Ich erhebe müde meinen Hintern, der wohl am Stuhl festgewachsen ist. Ich bezweifle, dass sich an unserer Situation etwas ändern wird. Daher die Müdigkeit.
    »Guten Tag, Frau Hrózová«, sagt der ältere Fettsack in meiner Muttersprache, vermutlich ein Dolmetscher. Er sitzt breit in diesem winzigen Büro, ist aber nicht allein. Außer ihm hockt noch ein junger Typ am Schreibtisch, der aussieht, als käme er frisch von der Uni, eine dünne Bohnenstange. Er mustert mich misstrauisch.
    »Guten Tag.«
    Ich kann meinen Kummer über Mama nicht verbergen, er bricht aus mir
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