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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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was für ein großer, braver Junge du bist. Ich könnte mir die Haare ausreißen, Nadjo, glaube mir!«
    »Mareçek ist drüben geblieben?«, fragt meine Mutter.
    »Nein.«
    »Großer Gott!«
    »Mareçek fing an zu weinen, so wie es Kinder immer im passendsten Moment tun. Verständlich. Mareçek verstand nur zu gut, dass das kein Spiel war. Er verstand, dass wir kaum eine Chance hatten. Nadjo, Nadjo, hätte ich auf ihn gehört! Der Zug war vorbeigerauscht, und ich konnte nicht losrennen. Mareçek klammerte sich an mir fest, und Ivanka weinte. Auf der anderen Seite wartete Karel mit stockendem Atem den vorbeirasenden Zug ab. Und da wir nicht kamen, musste er das Schlimmste annehmen.«
    »Das ist entsetzlich.«
    »Was hätte er also tun sollen? Er hätte mit Peta auf dem Arm noch mal zurückrennen können und die ganze Aktion abblasen, oder er hätte warten können und hoffen, dass ich einen triftigen Grund hatte, nicht sofort zu folgen, er hätte Peta irgendwo verstecken können, um mir alleine zu Hilfe zu kommen. Er wartete. Leider. Es dauerte ewig, bis sich Mareçek beruhigen ließ. Dann hielt er inne, ich sehe es vor mir. Diese Stille, eine ruhige, stille, friedliche Sekunde. Als der nächste Zug vorbeigerauscht war, rannte ich mit Ivanka im Arm los. Da habe ich Mareçek zum letzten Mal gesehen.
    »Mareçek ist drüben geblieben, oder?«, ruft meine Mama panisch.
    »Mutter!«
    »Die Steine waren so rutschig, als wären die voller Fett, ich habe sie nicht gesehen, es war stockduster. In weiter Ferne erkannte ich ein winziges helles Loch: der Ausgang. Die Erlösung. Die Zukunft. Die Freiheit. Ich nahm alle Kräfte zusammen und rannte. Ohne Pause rannte ich. Ivanka hielt ganz still, ich stolperte, ein ums andere Mal, als ob meine Beine brechen würden, und ich lief trotz der höllischen Schmerzen weiter. Wie ein Roboter. Noch nicht am Ziel, sah ich hinter mir zwei blendende Augen. Ein überirdisches Monster walzte hinter uns her, um uns für unsere eigene Dummheit zu bestrafen. Nadjo, ich sage dir, hätte ich mich in diesem Moment in den Arm geschnitten, es wäre kein Blut gekommen. Es gefror mir vor Angst in den Adern. Ich lief. Ich lief. Es war die schlimmste Lage, in der ich mich jemals befunden hatte, meine Muskeln resignierten, mein Wille gehorchte nicht mehr, und Ivanka nahm mit jedem Schritt an Gewicht zu. Eigentlich wollte ich aufgeben. Schnell! Schnell! Renn! Der Zug! Der Zug ist hinter dir, brüllte Karel. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe. Vielleicht kam Karel mir entgegen und riss Ivanka an sich. Vielleicht auch mich. Ich weiß es nicht mehr. Wir haben seitdem nicht mehr darüber gesprochen. Ich weiß nur, dass ich draußen zu Boden sank, weinte, brüllte. Ich brüllte wie ein Tier, schlug mich mit den Fäusten. Dabei ahnte ich noch nicht, was auf uns zukommen würde.«
    »Barborko, das ist ja der reinste Horror.«
    »Ja. Erst zu diesem Zeitpunkt realisierte ich, wie wenig ich dem allen gewachsen war. Niemals hätte ich mir diesen Horror ausgemalt. Was für eine krankhafte Idee. Ich könnte mich …«
    »Und Mareçek? Wo ist Mareçek geblieben?«
    »Mein Mareçek …« Barbora Hejduková starrt auf irgendeinen Punkt auf dem Boden. Sie ist wie von Sinnen.
    »Und weiter?«, fragt Mama sanft.
    »Wo bin ich stehen geblieben?«
    »Karel wollte Mareçek holen.«
    »Ach ja. Genau … Karel wartete, es dauerte ein paar Minuten. Es fühlte sich wie Stunden an. Das Vibrieren kündigte die nächste Höllenmaschine an, diesmal von der deutschen Seite. Ich hasse Züge. Wie ein Geschoss rauschte er an uns vorbei. Karel stoppte die Zeit und rannte los. Ab jetzt weiß ich aber nur noch Brocken. Karel redet nicht. Nicht mit mir. Herr Smrçek weiß sicherlich mehr. Wahrscheinlich ist er zum Versteck gegangen. Mareçek war angeblich nicht da. An diesem Tag lief alles schief. Er konnte nichts machen. Er durfte nicht rufen. Zu riskant. Die Grenzsoldaten wären sicher aufmerksam geworden. Bei aller Soldatenlethargie trugen sie trotz allem Maschinengewehre und waren darauf gedrillt, sofort auf alles zu schießen, was zwei Beine hat. Karel durchsuchte das Gestrüpp. Nadjo, hast du einen Schluck Wasser für mich?«
    Mutter springt auf und schenkt Barbora ein Glas Leitungswasser ein.
    »Danke. Erst flüsterte er: Mareçku, Mareçku. Wühlte im Gras. Nichts. Irgendwann war ihm alles egal, und er krächzte aus vollem Leib: Marku! Marku! Mareçku, komm zurück! Die Grenzsoldaten hörten ihn und schossen. Zweimal, dreimal,
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