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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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unter heftigem Gebrüll. In diesem Moment erschien Mareçek und warf sich Karel in die Arme. Beide duckten sich ins hohe Gras. Das Gras war gelb, wie im Herbst, sehr schön. Es duftete so trocken. In fester Umarmung lagen sie da. Mein Mareçek, mein armer Sohn. Sie zählten die Sekunden, bis der nächste Zug vorbeifuhr, während die Grenzsoldaten irgendwas brüllten. Warum sie brüllten, weiß ich nicht. Karel redete auf Marek ein, so wie ich davor auf ihn eingeredet hatte. Großer Gott. Wenn der Zug von dieser Seite kommt, rennen wir beide in den Tunnel, befahl er ihm! Falls ich nicht mitkomme, darfst du dich weder umdrehen noch auf mich warten! Du musst so schnell rennen, wie du kannst, hast du mich verstanden? Abgemacht? Abgemacht, antwortete Mareçek. Er hatte manchmal eine so erwachsene Art. Wenn du das schaffst, kaufe ich dir eine richtige Carrerabahn. Mareçek hatte sich immer eine Carrerabahn gewünscht. Da muss er noch gelächelt haben.«
    »Oje«, seufzen wir beide.
    »Es war so weit. Der Zug rauschte vorbei, der letzte Marathon fing an. Die Grenzsoldaten liefen nicht hinterher, sie wussten, es war ein Himmelfahrtskommando. Nach einer Weile spürten sie hinter sich den nächsten Zug. Wahrscheinlich. Selbst ich habe ihn gesehen. Und auch der Lokführer muss etwas gemerkt haben, denn es ertönte ein schrilles Signal. So ein Zug braucht aber lange, um das Tempo zu drosseln. Mareçek war schnell von Karel eingeholt, er war erst sechs. Karel nahm ihn auf den Arm, aber es lief sich schlecht, so setzte er ihn wieder ab. Lauf, lauf! Lauf, Marek, verdammt noch mal, lauf!! Dieser Lärm … Karel konnte im letzten Augenblick von den Gleisen springen. Aber Mareçek war auf einmal nicht mehr da … er war nicht mehr da.«
    Barbora Hejduková weint jetzt so heftig, dass auch wir angesteckt werden.
    »Er war nicht da??? Mareçek ist …?«
    Frau Hejduková nickt, Ivanka bestätigt mit einem kindlichen »Ja« die grausame Realität. Mit ihren winzigen Händchen formt sie den »bösen« Zug, der ihr den Bruder genommen hat.
    Wir sitzen still da.
    Jetzt wird mir alles klar. Diese Familie wird nie wieder so sein wie früher. Es wird mir klar, warum Karel Hejduk, Barbora Hejduková, Ivanka und Peta so sind, wie sie sind.
    Wir schweigen. Mutter hält Frau Hejdukovás Hand, wäre Ivanka nicht auf ihrem Schoß, würden sie sich sicherlich umarmen.
    »Mareçek wurde von dem Zug erfasst und starb. Es war ein deutscher Zug.«
    Barbara Hejduková sitzt immer noch bei uns, es ist längst dunkel geworden. Ich gehe inzwischen mit Ivanka und Peta zur Abendbrotausgabe, damit das Essen nicht verfällt. Die kleinen Hände drücke ich übertrieben fest, als wollte ich die letzten Goldstücke der zerstörten Familie schützen. Immer wieder schießen mir Bilder und Gedanken durch den Kopf. Ob man die blutigen Überreste von Mareçek sehen konnte? Was haben sie unmittelbar danach getan? Was war mit dem Lokführer? Wusste er, dass er ein Kind überrollt hat, oder nicht? Welcher Tunnel war es überhaupt?
    Zum Abendessen gibt es Graubrot, Butter, Leberwurst und Emmentaler. Dazu Hagebuttentee.

AUF DEM STINKIGEN TEPPICH GELANDET
    Ich werde immer nervöser, während sich mein Termin in Zirndorf nähert, Mutter hungert wieder.
    Zirndorf soll ein kleiner Vorort von Nürnberg sein. Für uns unfassbar weit weg, eine Weltreise in die Wüste. In Zirndorf befindet sich, jetzt werde ich wahrscheinlich ungenau, weil ich es immer noch nicht verstehe, die zentrale Stelle für Asylangelegenheiten. Dort soll so etwas Ähnliches wie eine Gerichtsverhandlung stattfinden, aber ohne Gericht. Eine Art »nettes Verhör«, erklären mir die anderen. Der Grund der Emigration soll dort erläutert werden, mithilfe eines Dolmetschers, versteht sich. Die Asylanten wissen alle nicht, was sie dort erwartet, jeder kann nur einmal hin, auch wir, und so erzählt jeder etwas anderes, jeder dichtet sich nach seiner eigenen Fantasie einen bunten Mist zusammen, hält es dann für wahr und verängstigt damit die Neuankömmlinge. Alle fürchten sich vor Zirndorf. Dort wartet die Zukunft oder das Verderben.
    Weshalb man die Heimat verlassen hat, wollen sie in Zirndorf erfahren, jeder Asylant soll mit der Wahrheit rausrücken, aber keiner tut es. Die Wahrheit bekommt man dort am wenigsten zu hören, die meisten spinnen sich ein Lügennetz zusammen, um dadurch ärmlicher und unschuldiger zu wirken, um die Chance auf Asyl zu erhöhen. Jeder versucht die Flucht als politisch – und damit
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