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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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sagt sie nur:
    »Nirgendwo gehst du hin! So ein lächerlicher Fratz wie du hat nichts zu entscheiden!«
    »Ich bin schon fast 17!«
    »Das ist nichts!«
    »Doch, ich bin fast erwachsen!«
    »Noch ein Wort! Mir juckt schon die Hand!«
    »Aber …«
    »Noch ein Wort!«, unterbricht sie mich.
    Ich halte lieber meine Schnauze. Ich merke, dass es keinen Sinn hat, sie ist in einer merkwürdigen Verfassung. So kenne ich sie gar nicht.
    »Alles Weitere besprechen wir morgen. Gute Nacht.«
    Sie geht ins Wohnzimmer und ich liege mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Ehebett.
    Wieso sie jetzt so verängstigt ist, ist mir nicht klar. Wieso sie auf einmal kneift, erst recht nicht. Will sie auf einmal kein neues Leben in Deutschland beginnen? Dabei war sie diejenige, die immer abhauen und den Dreckhaufen hier hinter sich lassen wollte. Sie hat mir den Floh ins Ohr gesetzt, von einer besseren Welt »da drüben«. Ich dachte, wir ziehen beide an einem Strang. Von wegen! Wo ist ihr Mut geblieben?
    »Wo ist er hin?«, flüstere ich, als sich meine Mutter nach einer Weile neben mich ins Bett legt.
    »Wer?«
    »Dein Mut.«
    »Wieso bist du noch wach?«
    »Warum machst du jetzt, wo sich die Chance ergibt, schlapp?«
    »Ich habe dich was anderes gefragt«, sagt sie schwach.
    »Oh, Mama. Haben sie dich so kleingekriegt, dass du dich nicht mehr traust, dich zu wehren? Erinnerst du dich, wie du vor 17 Jahren mit meinem Vater nach Kanada gehen wolltest? Als es noch möglich war, bevor ich geboren wurde. Ihr habt es nicht getan, ihr hattet Angst. Und jetzt hast du wieder Angst.«
    »Da war ich auch mit dir schwanger.«
    »Angst hattest du.«
    »Berechtigt.«
    »Was hätte passieren können?«
    »Du hast keine Ahnung. Und hör auf, so spät noch auf mich einzureden.«
    »Dein Leben lang hast du es bereut! Erinnere dich, was du immer gesagt hast. Wärst du damals mit ihm nach Kanada gegangen, hätte er dich vielleicht nicht verlassen.«
    »Er hätte mich auch so verlassen.«
    »Nein, in Kanada hätte er die andere Frau nicht kennengelernt.«
    »Dann hätte er sich eine Kanadierin gesucht.«
    »Das kannst du nicht wissen. Ich wäre in Kanada auf die Welt gekommen, wir würden perfekt Englisch sprechen und den Luxus im Westen genießen. Wir alle drei! Erinnere dich daran, es waren deine Worte: Diese Kleinstadt hat unsere Beziehung zerstört.«
    »Meine Güte, das weißt du noch?«
    »Jetzt ziehst du wieder den Schwanz ein. Erinnere dich an die Schikanen deiner Vorgesetzten. Wie diese opportunistischen Arschlöcher mich nicht auf das ›großartige Prager Konservatorium‹ gelassen haben, wie erniedrigend das war, wie wir geheult haben. Und du hast noch geflüstert: Steckt euch das großartige Prager Konservatorium in den –«
    »Leni, ich kann nicht.«
    »Wir dürfen nie etwas sagen, wir halten das Leben lang die Schnauze. Demonstrieren für Lenin, Breschnew, Husák! Die komanços gehen uns doch am Arsch vorbei!«
    »Nenn sie nicht so.«
    »Na gut, von mir aus unsere kommunistischen Brüder, wenn’s dir Freude macht! Mama! Wie hältst du das aus? Weißt du noch, als wir uns monatelang den Arsch mit der Zeitung abwischen mussten, bis wir Hämorrhoiden hatten – weißt du noch?«
    »Es waren keine Hämorrhoiden.«
    »Und weißt du, warum? Nur weil es die Scheißkommunisten nicht auf die Reihe bekommen haben, eine einzige Klopapierrolle in die Regale zu bringen.
    »Es waren keine Hämorrhoiden.«
    »Was war es dann?«
    »Du hattest einen wunden Arsch.«
    »Wie erbärmlich! Wie du sie verflucht hast, Mama! Wach auf, Mama! Sei mutig! Tu es für mich!«
    »Ich muss darüber nachdenken«, sagt sie in leisem, weinerlichem Ton.
    Meine Mutter schnarcht zart. Sie schläft immer auf dem Rücken. Deshalb schnarcht sie. Der Mund, zu einem kleinen Kreis geformt, holt in regelmäßigen Abständen Luft, und pfeifend lässt er sie wieder frei. Ich beneide sie. Wie schön es wäre, all meine Sorgen zu vergessen und in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu fallen, so wie sie. Stattdessen liege ich da und denke an das Vergangene.

KONSERVEN VOM FLIESSBAND
    Heute Nacht denke ich an die Konservatorien. Sowohl an das eine in Brünn als auch an das andere in Prag. Beide habe ich von innen gesehen. Immer wieder tauchen die Bilder von diesen gottverfluchten Konservatorien auf.
    Ich gehe weiter zurück, laufe in Gedanken zurück zum Anfang. Wie ich mit dreizehn die ersten Schauspielstunden an der Volksschule nahm.
    Meine Gedanken schwirren hin und her. Plötzlich schweifen
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