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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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wieder nicht einschlafen. Heute ist aber auch ein besonderer Tag gewesen, wegen des blauen Briefs, versteht sich. Und ich konnte den ganzen Tag mit keiner Menschenseele darüber sprechen.
    Ich fühle mich, als würde ich gleich platzen. Meine Mutter ist immer noch nicht zu Hause! Mindestens fünfzehn Minuten muss ich noch warten.
    Ich kann ohnehin schlecht einschlafen. Eigentlich halte ich mich für einen gesunden Menschen, daher ist es mir rätselhaft, warum ich nachts nicht abschalten kann. Ich kenne niemanden, der nicht schläft. Nur mich. Mit wem soll ich mich beraten? Keine Ahnung. Meine Mutter denkt, dass ich übertreibe und dass es nur eine Phase ist. Sie sagt immer, ich soll nicht so viel grübeln, an keine Blödsinnigkeiten denken, dann werde ich auch schlafen können. Dabei habe ich keine Blödsinnigkeiten im Kopf. Ich denke an gar nichts. Ich schlafe nur nicht. Klugscheißerin.
    Je mehr ich ans Schlafen denke, umso mehr fürchte ich mich vor dem Abend. Ich fürchte mich schon am Nachmittag vor dem Abend. Ich denke am Nachmittag, was ich später im Bett denken soll. Meistens vergesse ich es am Abend im Bett und denke an etwas anderes, aber egal, an was ich denke, nichts lässt mich einschlafen. Ich fürchte mich vor dem Bett im Kinderzimmer, es ist mein Feind. Deshalb schlafe ich seit Kurzem in Mutters Schlafzimmer. In ihrem Ehebett. Sie hat Platz genug. Es gibt keinen Ehemann in ihrem Bett. Sie schnarcht zwar, aber das nehme ich in Kauf. Morgens stehe ich auf und habe ein zerknautschtes Gesicht. Am besten ist es, wenn ich den Spiegel mit einem T-Shirt verdecke und mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser wasche. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Augen zwei winzige Punkte von der Größe einer Stecknadel sind, die irgendwann verschwinden. Sie brennen wie Feuer.

OHNE ANTWORT
    Das Schloss wird aufgesperrt, meine Mutter kommt endlich nach Hause.
    »Mami, Mami, komm her!«, rufe ich aufgeregt.
    »Leni, was ist denn? Du schläfst noch nicht?«
    »Ich kann nicht schlafen. Komm doch endlich her.«
    »Warte, ich muss mir die Schuhe ausziehen.« Während sie näher kommt und mit ihr der Geruch von Haarspray und Zigaretten, sagt sie: »Weißt du, dass es schon 11 Uhr ist? Ich konnte nicht früher kommen, ich hatte so viele Weiber zu versorgen. Unerträglich. Und dann traf ich Lojza, hab noch einen Abstecher ins Avion gemacht. Leni, du sollst nicht auf mich warten. Das haben wir doch schon besprochen?«
    »Wir haben ein Visum nach Deutschland bekommen«, sage ich vorsichtig, weil ich mindestens einen hysterischen Anfall erwarte.
    »Wie bitte?«
    »Ja!«
    »Sag bloß!«
    »Ja! Wir haben beide ein Visum nach Deutschland bekommen!«
    »Schrei nicht! Die Nachbarn können alles hören! Oh Gott. Haben wir einen Brief bekommen?« Sie streift ihr Jäckchen ab.
    »Ja, hier.« Und ich reiche ihr den Schatz. Er ist warm, ich habe ihn unter meiner Decke gehalten. Sie liest, einmal, zweimal, so wie ich heute Mittag. Dabei sagt sie hin und wieder »Jesus« oder »Oje« oder »Auweia« und fasst sich mit einer Hand an den Hals.
    »Und? Was sagst du dazu?«
    Sie sagt nichts, schaut mich an, sieht mich aber nicht.
    »Leni, wir müssen sehr, sehr leise sprechen.« Sie studiert den Briefumschlag. »Aus Vorsicht. Es wäre fatal, die Wände sind aus Papier.«
    »Ja.« Sie schweigt wieder. Ich könnte verrückt werden. »Was sagst du dazu?«, flüstere ich.
    »Nur deiner Familie kannst du trauen.« Sie hält wieder inne. »Nein, nur deiner Mutter kannst du trauen.«
    »Gut, Mami, aber was hältst du davon? Ich komme auf gar keinen Fall zurück«, sage ich entschieden.
    Sie schweigt.
    »Ja, ich eigentlich auch nicht, aber wir müssen uns alles genau überlegen. Das ist nicht so einfach, wie du glaubst, Leni. Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Schlaf jetzt.«
    »Nein, nein, das ist mir schon klar, dass wir es durchdenken müssen, aber eins muss klar sein, wir kommen auf keinen Fall zurück!«
    »Warte doch, Leni, ich kann es dir doch nicht sagen. Oder versprechen … jetzt! Jetzt, wo sie uns tatsächlich ein Visum gegeben haben!«
    Die letzten Worte stößt sie heftiger hervor. Sie bricht plötzlich ab und hält sich die Hand vor den Mund, wie ein Kind, das etwas Verbotenes gesagt hat.
    »Mami, wenn du nicht gehen willst, dann gehe ich alleine«, sage ich drohend und schüttele erwachsen den Kopf.
    Das kann meine Mutter nicht leiden. Ich merke, wie sie sich zurückhält. Am liebsten würde sie mich sofort ohrfeigen, stattdessen
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