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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher
Autoren: Rena Dumont
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brauche, ist sie weg, wenn ich allein sein möchte, drängt sie sich auf.
    Das würde die Hartgesottensten stören, wenn die eigene Mutter am Morgen vor der Prüfung unbedingt ein weißes Rüschenhemd bügeln muss, damit die fünfzehnjährige Tochter ordentlich angezogen ist. Oma hatte es eigens für diesen Anlass genäht. Wahrscheinlich wollte auch sie an der Prüfung beteiligt sein. Das Rüschenhemd fühlte sich spießig an. Grauenhaft spießig. Die Brünner trugen moderne Hemden in pink und türkis. Ich trug ein weißes Rüschenhemd, bei dem meine Haare elektrisch zu Berge standen.
    Das Konservatorium roch ähnlich wie das Gymnasium, an dem ich gerade bin. Nach Schimmelpilz, Feuchtigkeit, Kantine und Schauspielerei. Die Decken und Fenster waren so hoch und riesig, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie man sie reinigt. Hinter jeder Tür wurde geprüft. Verschiedene Kommissionen, die für alle möglichen Bereiche zuständig waren. Ich habe getanzt, gesungen, Spagat gezeigt, vorgespielt, improvisiert, Geschichten erzählt, Noten vorgelesen, Gitarre gespielt, geklatscht. Trotz des nicht schweißsaugenden Rüschenhemdes kam ich gut an. Das war zumindest mein Eindruck.
    Ein paar Wochen später kam der Anruf: Sie haben die Begabungsprüfung bestanden, wir möchten Sie zu einer weiteren, schriftlichen Prüfung nach Brünn, am Soundsovielten, einladen. Genaueres erfahren Sie per Post. Klick.
    »Mama, die Schauspielschule hat angerufen! Ich habe es geschafft! Ich soll wiederkommen!«, schrie ich aus Leibeskräften aus dem Fenster meiner Mutter zu. Sie buddelte gerade in der Erde unseres Schrebergartens und jätete Unkraut. Ben, unser Hund, suchte nach Steinen. Ben liebt Steine, deshalb hat er fast keine Zähne mehr.
    Mutter sah aus wie eine Bäuerin, sie spielte sie gerne. Offensichtlich hat sie mich nicht verstanden, denn sie glotzte nur und schwieg. Ich wiederholte den Satz, erst dann riss sie sich das bunte Tuch vom Kopf und wedelte damit, als wäre sie in einem Propagandafilm der Vierzigerjahre.
    »Toll, Leni! Toll! Toll! Ich gratuliere dir! Du hast es geschafft! Ich wusste es! Ich komme hoch. Wir müssen sofort zur Oma. Berichten!«, schrie sie. »Ben, komm her! Hör auf, was tust du da?! Oh nein, er wälzt sich in irgendeinem widerlichen Zeug.« Sie roch an dem Hund. Die dunklen Flecken auf seinem Rücken waren selbst aus dem zweiten Stock zu erkennen. »Tote Maus. Pfui. Das stinkt. Du bist eine Sau, du Hund!« Dann schaute sie wieder hoch, vergaß die Maus und rief: »Leniçka hat die Prüfung geschafft!«
    Die schriftliche Prüfung war eine banale Prüfung aus Mathematik, Tschechisch und Russisch. Eine reine Formalität. Angeblich wollte man nur sichergehen, dass keine Bewerber mit einem IQ von -20 aufgenommen werden. Ich saß auf der Schulbank gemeinsam mit Balletttänzern, Musikern und Schauspielern in einer Klasse und kam mir wichtig vor. Mein türkisfarbenes Hemd sah fantastisch aus. Nichts konnte schiefgehen. Wir waren nicht mehr als 30 Leute, davon nur sieben Schauspieler. In Mathe schielten meine Augen gekonnt in alle Richtungen, ich schrieb alles ab. Ich bin von Eviçka trainiert. In den anderen Fächern konnte ich mir ausnahmsweise selber helfen. Nach 14 Tagen kam ein Brief. Eine Absage. Ohne Begründung. Ein Satz.
    Das war die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich heulte wie am Spieß. Meine Mutter auch. Das fand ich unangebracht, also hörte ich augenblicklich auf damit. Sie nahm mir die Lust am Selbstmitleid.
    Das Wort Konservatorium erinnert an Konserven. Ich stelle mir vor, wie aus der Schule fertige Schauspielerkonserven auf dem Fließband herauskommen, eine künstlicher als die andere, mit einer perfekten Gesangsausbildung, Spagat und einem breiten Fächer voller Emotionen. Jede Dose ist zu jeder Zeit präsentabel. Glänzend. Kerzengerade. Schultern zurück. Beängstigend genial. Genau wie ich es nicht bin.
    »Wieso haben sie mich rausgeschmissen?«, nervte ich meine Mutter immer wieder. »Da muss doch was faul sein.«
    »Leni, das weiß ich nicht.«
    »Ist das alles, was du mir dazu sagen kannst?«
    »Leni, aber was soll ich denn sagen? Ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß genauso wenig wie du.«
    »Bist du nie an der Wahrheit interessiert? Lässt du alles mit dir geschehen, ohne dich dagegen zu wehren? Lässt du dir immer alles gefallen? Was glaubst du, wie viele Mädchen in der Klasse waren? Zwei? Drei? Dass ich nicht lache! Nur drei Mädchen für die gesamte Schauspielabteilung? Und
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