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Papillon

Papillon

Titel: Papillon
Autoren: Henri Charrière
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gelähmtes Gesicht strahlt in solchen Augenblicken, und seine glänzenden Augen haben einen Ausdruck, als wollte er mir viele Sachen erzählen. Aber was nur? Immer bringe ich ihm ein paar Leckerbissen: einen Salat aus Tomaten, aus grünen Bohnen, oder einen Gurkensalat, schon mit Essig und Öl zubereitet, oder eine kleine Melone, oder einen am Spieß gebratenen Fisch. Er hat keinen Hunger, denn im venezolanischen Bagno ist die Kost reichlich, aber meine Mitbringsel machen die tägliche Speisenfolge ein bißchen abwechslungsreicher. Auch einige Zigaretten habe ich immer für ihn. So sehr wurden mir diese kurzen Besuche bei Piccolino zur fixen Gewohnheit, daß die Soldaten und Gefangenen ihn den »Sohn von Papillon« nennen.
In Freiheit
    Die Venezolaner sind so gewinnend, so bezaubernd, so ungewöhnlich in ihrer ganzen Art, daß ich entschlossen bin, ihnen zu vertrauen. Ich werde nicht auf Flucht gehen. Noch immer ihr Gefangener, finde ich mich mit dieser anormalen Lage ab in der Hoffnung, daß ich vielleicht eines Tages ihrem Volk werde angehören können. Das scheint paradox. Aber mich kann die brutale Behandlung, die sie gegenüber den Gefangenen an den Tag legen, nicht davon abschrecken, innerhalb ihrer Gesellschaft leben zu wollen. Ich habe herausgefunden, daß körperliche Mißhandlungen für sie, sowohl für die Gefangenen wie für die Soldaten, etwas durchaus Gewohntes sind. Wenn ein Soldat einen Fehler begeht, erhält auch er mehrere Schläge mit dem Ochsenziemer. Und wenige Tage später spricht derselbe Soldat mit demselben Unteroffizier oder Offizier, der ihn geschlagen hat, als wenn nichts passiert wäre.
    Dieses barbarische System wurde ihnen von dem Diktator Gomez beigebracht, der sie lange Jahre regiert hat. So ist ihnen das geblieben, bis zu dem Grad, daß sogar der Polizeichef die Einwohner, die in seinem Machtbereich leben, mit dem Ochsenziemer bestraft, wenn es ihm nötig erscheint.
    Eine Revolution bewirkt, daß ich mich am Vorabend meiner Freiheit befinde. Der Staatsstreich, halb zivil, halb militärisch, hat den Präsidenten der Republik, den General Angarita Medina, einen der größten Liberalen, die Venezuela je gekannt hat, gestürzt. Er war ein so guter, so demokratischer Mann, daß er dem Staatsstreich keinen Widerstand entgegensetzen wollte. Er weigerte sich, so scheint es, kategorisch, unter den Venezolanern Blutvergießen herbeizuführen, nur um sich an der Macht zu halten. Dieser bedeutende demokratische Militär ist gewiß nicht auf dem laufenden gewesen, was in El Dorado alles vor sich ging.
    Jedenfalls wurden einen Monat nach der Revolution alle Offiziere des Lagers ausgetauscht. Eine Untersuchung über den Tod des »Ronque«, und daß man ihn vielleicht vergiftet hat, wurde eingeleitet. Der Lagerleiter und sein Schwager verschwanden, an ihre Stelle trat ein Rechtsanwalt, ein früherer Diplomat.
    »Jawohl, Papillon, ich werde Sie morgen in Freiheit setzen. Aber ich möchte, daß Sie diesen armen Piccolino, an dem Sie so viel Anteil genommen haben, mitnehmen. Er hat keinen Ausweis über seine Person, ich werde ihm einen machen lassen. Und hier überreiche ich Ihnen Ihren gültigen Personalausweis mit Ihrem richtigen Namen. Folgende Bedingungen sind zu beachten: Sie müssen ein Jahr lang, ehe Sie sich in einer größeren Stadt niederlassen, in einem kleinen Ort leben. Sie werden dort nicht überwacht sein, aber man wird doch sehen können, wie Sie leben und wie Sie sich in dem neuen Leben behaupten. Wenn Ihnen – ich glaube am Ende des Jahres – der Polizeichef des betreffenden Ortes ein gutes Führungszeugnis ausstellt, wird er Ihrem ›confinamiento‹, ihrer ›Internierung‹ selbst ein Ende bereiten. Ich glaube, daß Caracas dann die ideale Stadt für Sie sein wird. Auf jeden Fall sind Sie berechtigt, legal in unserem Land zu leben.
    Ihre Vergangenheit zählt für uns nicht. Es liegt nun an Ihnen, zu beweisen, daß Sie unseres Entgegenkommens würdig sind und von neuem ein achtenswerter Mann werden wollen. Ich hoffe, daß Sie innerhalb von fünf Jahren mein Landsmann sind durch die Einbürgerung, die Ihnen ein neues Vaterland schenkt. Möge Gott Sie begleiten! Ich danke Ihnen, daß Sie sich des armen Wracks von einem Piccolino annehmen werden. Ich kann ihn nicht in Freiheit setzen, wenn nicht jemand unterschreibt, daß er die Verantwortung für ihn übernimmt. Hoffen wir, daß ihm eine Spitalspflege Heilung bringen kann.«
    Morgen früh um sieben soll ich also in Begleitung von
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