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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag
Autoren: Andreas Schlüter
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stellten sich Stimmen ein. Die Stimme seiner Mutter, die ihn morgens weckte oder ärgerlich wurde, wenn er log. Die Stimme seines Vaters beim Autofahren. Liyas Stimme ganz nah an seinem Ohr. Das Schnurren des Katers. Sogar Jana und Christoph Glasing. Irgendwas war mit dem, verletzt oder so. Nach und nach stellten sich auch Bilder ein, die rasch wechselten, Erinnerungsfetzen und alte, längst vergessene Träume. Das alles machte nicht den Eindruck, als ob er seinem freien Fall durch die Zeit irgendeine Richtung gab. Also versuchte Sariel, sich beim Singen mehr auf ein paar wesentliche Dinge zu konzentrieren. Auf Liya vor allem, die er ja schließlich retten wollte. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, und sang das Lied nun ausschließlich für sie.
    Das erste Liebeslied seines Lebens.
    Sariel spürte, dass sich irgendetwas veränderte. Das Gefühl endlosen Fallens ließ nach. Mehr und mehr fühlte es sich an wie ein Sog, der ihn in eine bestimmte Richtung zerrte. Sariel surfte auf einer Monsterwelle über den Atlantik, und er hatte nicht vor, zwischendurch abzuspringen.
    Das Ende kam wieder ganz plötzlich. Von irgendwo hörte Sariel dumpfe Geräusche, sah in der Ferne Lichter aufblitzen. In der Nähe schwamm der rote Kater. In diesem Augenblick wusste Sariel, dass er angekommen war. Und sah Liya.
    Sie schwamm um ihn herum und lächelte ihn an wie schon einmal. Ihr Anblick löste unbändige Freude in Sariel aus.
    Hallo, Sariel.
    Hallo, Liya.
    Ich hab gewusst, dass du mich holen kommst.
    Ich hab nicht geglaubt, dass ich's schaffe.
    Aber jetzt bist du ja hier.
    Ja. Jetzt bin ich hier.
    Sariel sah Liya an und begriff, dass der Große Plan der Kalmare aufgegangen war.
    Dass er es geschafft hatte. Er war hier bei Liya und die GON waren irgendwo im Nichts, für alle Zeiten. Er hatte das Tor für Liya geöffnet, sie musste bloß noch hindurchtreten. Und Sariel verstand auf einmal, dass er mit ihr gehen wollte. Er verstand, dass Pangea die Welt war, in der er leben wollte. Die Welt, von der er immer geträumt hatte. Und er verstand auch, dass das nicht ging. Noch nicht.
    Der Druck auf seinen Lungen nahm langsam zu. Das Tor zur Zeit war dabei, sich wieder zu schließen.
    Was hast du, Sariel?
    Ich kann nicht mit dir mitkommen, Liya.
    Warum nicht?
    Sariel versuchte ein Lächeln und merkte, dass er kaum noch atmen konnte. Es wurde Zeit.
    Ich bin noch nicht so weit.
    Aber ich liebe dich, Sariel.
    Ich weiß. Ich liebe dich auch, Liya.
    Liya schien zu verstehen, was in ihm vorging. Bist du ganz sicher?
    Nein, wollte er sagen. Neinneinnein! Ja.
    Liya lächelte ihn an. Du warst sehr mutig, Sariel. Du hast uns alle gerettet.
    Die Kalmare haben euch gerettet.
    Die Kalmare und du.
    Du musst jetzt gehen, Liya.
    Ich könnte ja bei dir bleiben.
    Das würde viele Menschen sehr unglücklich machen.
    Sie nickte betrübt. Wie werde ich zurückfinden?
    Das Lied wird dich führen.
    Liya nickte wieder und kam jetzt ganz nah an ihn heran. Dann wird es dich ja vielleicht eines Tages auch wieder zu mir führen. Das wäre schön. Damit nahm sie seinen Kopf in beide Hände und küsste Sariel zärtlich auf den Mund. Ein Kuss zwischen den Zeiten. Ein Kuss für alle Ewigkeit.
    Vergiss mich nicht.
    Nein. Niemals.
    Dann löste sie sich von ihm und trieb langsam weg. Leb wohl, Sariel.
    Leb wohl, Liya.
    Um 22.37 Uhr tauchte ein fünfzehnjähriger Junge prustend und keuchend mitten in der Alster auf, in der er kurz zuvor untergetaucht war. Der Junge hieß Huan. Er war nackt und hielt einen pitschnassen roten Kater im Arm. Am Himmel über ihm stiegen Feuerwerksraketen in die Luft und zerplatzten mit wunderbaren Donnerschlägen zu bunten Feuerblumen. Von diesem Anblick und dem Geräusch der Detonationen am Himmel würde der Junge namens Huan sein Leben lang nie genug bekommen. Und würde dennoch jedes Mal dabei weinen müssen, sein ganzes Leben lang.
    Gegen 22.46 Uhr, als das Feuerwerk vorbei war, kletterte Huan erschöpft ans jenseitige Ufer der Alster im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Huan kannte den Weg nach Hause und rannte, so schnell er konnte, mit dem nassen Kater im Arm. Ein paar Leute riefen ihm etwas hinterher, doch Huan achtete nicht darauf. Seine einzige Sorge war, dass er keinen Haustürschlüssel mehr hatte. Zum Glück stand das Schlafzimmerfenster seiner Eltern offen. Huan, immer noch nackt und immer noch den Kater im Arm, kletterte verblüffend geschickt an der Regenrinne hinauf auf den Balkon und gelangte so zurück in seine Wohnung.
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