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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany
Autoren: John Irving
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das; eine Schwangerschaft, noch dazu eine, zu der sie jede
Auskunft verweigerte! Wie Tante Martha sagte, bekam mein Großvater »schon
nichts mehr mit«; er war dem Tode so nahe, daß er nie erfuhr, daß meine Mutter
schwanger war, »obwohl sie sich kaum bemühte, es zu verstecken«. Mein armer
Großvater, so sagte Tante Martha zu mir, »starb in Sorge darüber, warum deine
Mutter so dick geworden war.«
    Zu der Zeit, als Tante Martha noch zu Hause war, hieß es für die
Heranwachsenden aus Gravesend, Boston sei ein sündiges [30]  Pflaster.
Und obwohl meine Mutter in einer durchaus ehrbaren Pension für Frauen
übernachtete, wo sie ständig überwacht wurde, hatte sie ein kleines
»Techtelmechtel« gehabt, wie Tante Martha es nannte, und zwar mit dem Mann, den
sie im Boston & Maine getroffen hatte.
    Meine Mutter war so still, und Kritik und Verleumdung konnten ihr so
wenig anhaben, daß sie gegen das Wort »Techtelmechtel«, das ihre Schwester
dafür benutzte, nichts einzuwenden hatte – im Gegenteil, ich habe sie selbst
dieses Wort liebevoll aussprechen hören.
    »Mein Techtelmechtel«, so nannte sie mich gelegentlich voller
Zärtlichkeit. »Mein kleines Techtelmechtel!«
    Von meinen Vettern hörte ich zum ersten Mal, daß man meine Mutter
für »ein wenig einfältig« hielt; das mußten sie von ihrer Mutter – von Tante Martha – aufgeschnappt haben. Als ich diese Worte zum erstenmal
hörte – »ein wenig einfältig« – regte sich niemand mehr darüber auf; meine
Mutter war schon mehr als zehn Jahre tot.
    Doch meine Mutter war mehr als nur eine natürliche Schönheit mit
einer herrlichen Stimme und fragwürdigen intellektuellen Fähigkeiten; Tante
Martha hatte gute Gründe anzunehmen, daß meine Großeltern meine Mutter verwöhnt
hatten. Nicht nur, daß sie das Nesthäkchen war, es war ihr Naturell – nie war
sie beleidigt oder mürrisch, sie bekam auch keine Koller oder Anfälle von
Selbstmitleid. Sie war ein so gutmütiges Wesen, man konnte ihr einfach nicht
lange böse sein. Wie Tante Martha sagte: »Sie wirkte nie so bestimmt, wie sie
in Wirklichkeit war.« Sie tat einfach, was sie wollte, und sagte dann auf ihre
einnehmende Art:» Oh ! Es
tut mir schrecklich leid, daß ich dich damit
aufgeregt habe, und ich werde dich jetzt so sehr mit meiner Liebe überschütten,
daß du mir verzeihst und mich genauso liebst, wie wenn ich das nicht gemacht
hätte!« Und das klappte !
    Es klappte jedenfalls so lange, bis sie starb – und da konnte sie [31]  nicht versprechen, alles wiedergutzumachen; es
gab keine Möglichkeit, das wiedergutzumachen.
    Und selbst als sie mich bekam, ohne ein Wort der Erklärung, und mich
nach dem Gründervater von Gravesend nannte – selbst nachdem sie es
fertiggebracht hatte, daß ihre Mutter und ihre Schwester damit leben konnten,
und auch die Stadt (ganz zu schweigen von der kongregationalistischen Kirche,
wo sie weiter im Chor mitsang und auch bei vielen Gemeindeveranstaltungen
mithalf)… selbst nachdem sie sich mit meiner unehelichen Geburt durchgesetzt
hatte (zu jedermanns Zufriedenheit, so schien es
zumindest), fuhr sie immer noch jeden Mittwoch nach
Boston, verbrachte immer noch jeden Mittwochabend in
dieser gefürchteten Stadt, um für ihre Sprech- und Gesangsstunde am frühen
Morgen frisch und ausgeruht zu sein.
    Als ich etwas älter wurde, störte es mich – manchmal. Einmal, als
ich Mumps hatte, und ein anderes Mal, als ich mit Windpocken im Bett lag, sagte
sie die Stunde ab und blieb bei mir zu Hause. Und noch ein anderes Mal, als
Owen und ich im Kanal, der in den Squamscott führte, Maifische fingen und ich
ausrutschte und mir das Handgelenk brach; in dieser Woche fuhr sie nicht mit
dem Zug nach Boston. Doch sonst – bis ich zehn war und sie den Mann heiratete,
der mich adoptieren und mir wie ein Vater werden würde – fuhr sie über Nacht
nach Boston. Bis dahin sang sie. Nie hat mir jemand gesagt, ob sie Fortschritte
machte.
    Deshalb wurde ich im Haus meiner Großmutter geboren, einem
riesigen Ziegelsteinklotz aus dem letzten Jahrhundert. Als ich noch klein war,
wurde das Haus mit einem Kohleofen beheizt; die Rutsche für die Kohlen befand
sich im L-förmigen Anbau des Hauses, genau unter meinem Zimmer. Da die Kohlen
immer frühmorgens angeliefert wurden, war das Rumpeln, mit dem sie in den
Keller hinabrutschten, oft das Geräusch, das mich aufweckte. Wenn, was
gelegentlich vorkam, die Kohlen an einem [32]  Donnerstagmorgen
gebracht wurden (wenn meine Mutter in
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